Duft des Mörders
College.
Sie ging mit dem Foto zur Stehlampe gleich neben dem Zweisitzersofa ihres Vaters und hielt es ins Licht. Doch sosehr sie sich auch bemühte, ein Hinweis darauf, dass zwei Bilder zu einem zusammengefügt worden waren, war nicht zu finden.
Lange Zeit starrte sie das Foto an, ehe sie auf den Gedanken kam, einen Blick auf die Rückseite zu werfen. Dort war etwas notiert worden:
„Lieber Richter Meyerson. Auch die Mächtigen straucheln. Wir sollten uns unterhalten.“
Keine Unterschrift, kein Datum, kein Anhaltspunkt, ob das Foto vor oder nach der Scheidung ihrer Eltern entstanden war.
Mit einem Mal erinnerte sie sich an den Abend, an dem ihre Eltern ihr sagten, sie würden sich trennen. Sie hörte wieder die kühle, gefühllose Stimme ihrer Mutter, die einen krassen Gegensatz zum reumütigen Ausdruck in den Augen ihres Vaters dargestellt hatte.
Ihr Magen rebellierte, ihre Haut fühlte sich feucht an. Sie griff nach der Sofalehne, weil ihre Beine den Dienst zu versagen drohten. Doch ihre Hand verfehlte das Ziel und warf stattdessen die Lampe um.
„Verdammt.“
Im ersten Stock wurde eine Tür geöffnet. „Jenna?“ rief ihr Vater. „Warst du das? Ist alles in Ordnung?“
Sie reagierte nicht. Sie wollte ihn jetzt nicht sehen, nicht, nachdem gerade eben ihre ganze Welt aus den Fugen geraten war. Doch sie konnte es nicht verhindern, da er bereits die Treppe herunterstürmte.
Dann stand er im Schlafanzug in der Tür seines Arbeitszimmers und sah sie verwundert an. „Jenna, was machst du denn hier?“ Seine Sorge wich im nächsten Moment einem panischen Ausdruck, als er das Foto in ihrer Hand sah. Sein Gesicht wurde blass.
Jenna ließ die Schultern sinken. Jede Hoffnung, das Foto könnte eine Fälschung sein, löste sich in nichts auf. Die Schuld stand ihrem Vater ins Gesicht geschrieben. Sie wartete darauf, dass er irgendetwas sagte, wenigstens etwas Lächerliches wie „Es ist nicht so, wie du denkst“ oder „Ich kann das erklären“. Doch er stand nur völlig reglos da. Der Mann, der in seiner langen Karriere nie um Worte verlegen gewesen war, stand einfach nur da und schwieg.
Die eisige Kälte, die sich um ihr Herz gelegt hatte, ergriff allmählich ihren ganzen Körper. Als sie endlich in der Lage war, etwas zu sagen, klang ihre Stimme fremd. „Wann wurde das aufgenommen?“
„Bitte, Jenna …“
Das war nicht die Antwort, die sie hören wollte. „Es ist doch eine ganz einfache Frage, Dad. Also gib mir auch eine ganz einfache Antwort. Am besten ein Datum. Wie alt ist das Foto? Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr?“ Ihre Stimme nahm einen gehässigen Tonfall an. „Das ist doch sicher nichts, was man so schnell vergisst.“
„5. April.“
„5. April … und das Jahr?“
Sam schloss die Augen. „1999.“
Jenna hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Am 8. April war ihre Mutter ausgezogen, und am 21. Dezember war Elaine Meyerson auf einer regennassen Straße in Connecticut tödlich verunglückt.
„Du hast Mom betrogen.“ Die Worte klangen unwirklich, die Wahrheit unerträglich.
„Nein! Ich … ich meine …“ Sam fuhr sich mit zitternden Fingern durchs Haar. „So war es nicht.“
„So war es nicht?“
wiederholte sie. „Willst du vielleicht behaupten, du hast nicht mit dieser Frau geschlafen? Für wie dumm hältst du mich?“
„Was ich damit sagen will …“ Er warf einen kurzen Blick auf das Foto. „Es war … Sie hat mir nichts bedeutet …“
„Oh bitte, erspar mir diese Klischees. Und verkauf mich nicht für dumm. Offenbar hat sie dir genug bedeutet, um deine Ehe und Familie aufs Spiel zu setzen.“
„Ich hatte nicht erwartet, dass es so kommen würde. Sie war nur …“
Er ließ den Satz unvollendet, woraufhin Jenna ihn zu Ende führte: „… nur ein One-Night-Stand? Eine schnelle Nummer? Du hast dreiunddreißig Jahre Ehe einfach weggeworfen und diese Schlampe der Frau vorgezogen, die dich geliebt und respektiert hat?“
Jeder Satz ließ ihn zusammenzucken. „Ich weiß selbst sehr gut, was ich verloren habe, Jenna. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke, wie wundervoll mein Leben mit deiner Mutter war.“
„Offensichtlich nicht wundervoll genug, sonst hättest du dich nicht auf dieses schmutzige Abenteuer eingelassen.“ Sie drehte das Foto um und überflog den Text auf der Rückseite. „Und anschließend hat dein Abenteuer dich erpresst, richtig?“
„Es gab einen Erpressungs
versuch
.“
„Einen Versuch?“
„Ich bin auf deren
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