Duke - Ein weiter Weg zurueck (German Edition)
gewagt hatte, die Telefonnummer meiner Eltern zu wählen. Anfangs hatte ich jeden Tag eine kurze Postkarte geschickt: „Mir geht es gut, macht euch keine Sorgen.“ So ähnlich lauteten die Inhalte. Irgendwann verlängerten sich die Zeitabschnitte, und ich stellte mir vor, dass meine Eltern ihr normales Leben wieder aufgenommen hatten.
„Vera, bist du es?“ Das waren die ersten ängstlichen Worte gewesen, die mir damals entgegengeschallt waren, kaum dass das erste Läuten verklungen war. „Hallo, Mama.“ Ein Aufschluchzen, das Weiterreichen des Hörers an meinen Vater, der sich kurz räusperte. „Hallo, Vera, schön, dass du dich meldest. Wo bist du gerade?“ Mit belanglosen Worten hatten Papa und ich uns über das erste Gespräch gerettet, und diese Taktik behielten wir bei. Es half mir, meine Verbindung zu meinen Eltern aufrechtzuerhalten, ohne dass ich zu sehr an dem rührte, was mir so wehtat. Ich hatte meinen Anker im Leben verloren. Mein Ziel war so klar gewesen, mein Leben sicher und behütet, niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass es anders sein könnte. Jetzt erschien mir nichts mehr im Leben als sicher. Alles war zerbrechlich, konnte kaputt gehen und mich verletzen. Der einzige Schutz bestand darin, an nichts sein Herz zu hängen. Und wenn es so war, dass ich das Gefühl hatte, ich gewöhnte mich an etwas, ließ einen Ort, einen Menschen zu nah an mich heran, dann packte ich meine Koffer und ging weg.
Gestern hatte ich nicht einen Augenblick gezögert, alles hinzuwerfen, meine Eltern brauchten mich. Meine Mutter brauchte mich. Keinen Gedanken verschwendete ich daran, was es für mich oder für meine Eltern bedeuten würde, wenn ich wieder in ihr Leben trat. Erst gestern auf dem Flughafen, als Mama zögernd auf mich zugelaufen war, unsicher, ob sie mich in die Arme nehmen sollte oder nicht, war mir klar geworden, was auf mich zukam. Seit ich aus dem Abgrund gekrabbelt war, hatte ich keinen Blick mehr zurückgeworfen. Jetzt saß ich hier vor meiner Mutter und wusste nicht, ob es der alte Abgrund war, der auf mich lauerte, oder ein neuer. Schließlich hob ich die Augen und sah Mama an, deren Gesicht verschlossen war.
„Mama, ich bin hier und ich werde euch helfen, soweit es in meinen Kräften steht. Das heißt aber nicht, dass ich zurückkomme“, fügte ich hinzu. Meine Stimme klang erstaunlich ruhig und kraftvoll, obwohl ich innerlich zitterte. „Wichtig ist, dass Papa wieder auf die Beine kommt.“ Damit ich wieder gehen kann, setzte ich im Gedanken dazu. Mama ließ ihren Becher los und ergriff meine Hand.
„Danke, dass du gekommen bist.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich weiß, dass es nicht leicht für dich ist.“
Ich schluckte hart und nickte. Die Verantwortung lag bei mir. Ich musste stark sein und meiner Mutter Halt geben, so wie es mein Vater immer getan hatte.
Mama war in ihrem kleinen Fiat zu den Sanders hinübergefahren. Gestern hatte ihr das Krankenhaus mitgeteilt, dass wir frühestens am Nachmittag gegen vier Uhr zu Besuch kommen durften. Bis dahin wollten sie einige Untersuchungen bei Papa vornehmen.
Unruhig lief ich im Wohnzimmer auf und ab. Die Tasche und der Rucksack mit meinen Habseligkeiten waren im Schrank verstaut. Ich hatte geduscht. Die Küche war sauber, die Wäsche wie immer längst gebügelt – es gab nichts, absolut gar nichts, was ich im Haus noch hätte machen können.
Erhol dich, ruh dich aus, waren Mamas Worte gewesen, als sie zu ihrer Arbeit ins Gutshaus verschwand. Sie hatte gut reden. Wie sollte ich nur die Zeit totschlagen bis vier Uhr?
Aus lauter Verzweiflung schaltete ich den Fernseher ein. Ich wusste schon gar nicht mehr, wann ich zuletzt so ein Teil bedient hatte. Leider benötigte das Programm keinerlei Gehirnkapazität, sodass es mich von meinen Gedanken nicht ablenkte. Ich schaltete das Gerät gleich wieder aus. Und so tigerte ich von Neuem durch das Haus. Vor der Tür zum Büro meines Vaters blieb ich stehen. Er hatte mir alles über Pferde beigebracht, aber Buchführung, Lohnabrechnung oder gar Arbeit am Computer waren ihm ein Gräuel. Sobald ich so weit gewesen war, dass ich diese Aufgaben übernehmen konnte, war er nur noch zum Kaffee trinken ins Büro gekommen. Ich fragte mich, wie es hinter der Tür wohl aussehen mochte, jetzt, nachdem er zwei Jahre lang alles hatte alleine machen müssen. Aber ich brachte nicht den Mut auf, es herauszufinden. Denn das würde für mich auch die Frage aufwerfen, die ich mir stellte, seit
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