Duke - Ein weiter Weg zurueck (German Edition)
ich von Papas Herzinfarkt wusste. War es womöglich meine Schuld, dass es dazu gekommen war? Hatten der Unfall und meine Flucht von zu Hause eine Rolle gespielt?
Ich lief zurück ins Wohnzimmer und blieb diesmal vor dem Bücherregal stehen. Wahllos zog ich ein Buch heraus, Handbuch für Pferde . Schnell schob ich es wieder ins Regal zurück. Weidewirtschaft . Auch nicht besser. Ich wechselte die Regalseite. Der Pferdeflüsterer . Verdammt, gab es in diesem Haus kein Buch, das nichts mit Pferden zu tun hatte?
Unruhig streifte mein Blick durch den Raum, blieb am Fenster hängen. Ich sah hinaus auf die Wiesen, die unser Haus umgaben. Da war der landwirtschaftliche Weg, der in den Wald führte und sich dort gabelte. Einer der Wege führte weiter zum Anwesen der Sanders, der andere endete bei unserem Nachbarn Paul, einem Bauern, der Rinder züchtete und mit dem wir gemeinsam im Wechsel die Weiden bewirtschafteten. Die Sonne sandte ihre Strahlen durch die Wolkendecke. In der Nacht war es kalt gewesen, die Spitzen der Gräser waren in eine feine Eisschicht eingehüllt. Wo die Sonnenstrahlen auf die Halme trafen, schmolz das Eis zu Wassertropfen, die sich langsam einen Weg nach unten bahnten. Ich lehnte meine Stirn gegen die kühle Glasscheibe. Alles war so vertraut, ich kannte jeden Pfosten, jeden Busch, jeden Baum, jeden Weg, der sich durch den Wald schlängelte. Selbst die Pfade, die sich das Wild durch die Bäume suchte, kannte ich in- und auswendig. Mit geschlossenen Augen hätte ich aus dem Haus gehen können und hätte den Weg zu den Sanders gefunden. Ich würde den Personaleingang nehmen, durch die Küche gehen, in das kleine Büro meiner Mutter, wo sie arbeitete. So nahe war sie und doch meilenweit entfernt für mich. Gehörte ich überhaupt noch hier her?
Das alles war mal mein Leben gewesen. Mir wurde klar, dass es keinen Ort auf der Welt gab, der die gleiche Bedeutung für mich besaß und mir ein ähnliches Gefühl gab. Ich löste mich von dem Fenster, drehte mich um, und meine Augen fielen auf das Bild von uns Kindern. Ich in der Mitte, rechts Thomas und links Henning. Mama hatte damals den Auftrag von Julia Sander erhalten, mit den beiden Jungs zu einem Fotografen zu fahren. Erst waren die beiden einzeln fotografiert worden, dann zusammen. Auch von mir machte der Fotograf ein Bild, und dann wollte er eines von allen Geschwistern machen. Statt den Mann über den Irrtum aufzuklären, ließ Mama ihn gewähren, und so war das Bild entstanden. Thomas’ Haare, kurz geschnitten, ordentlich und glatt. Henning, dessen Haare nach den ersten Fotos wieder wirr abstanden. Beide blond mit dunkelbraunen Augen, dazwischen ein braunhaariges Mädchen mit grünen Augen und schulterlangen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Henning einen Kopf größer, Thomas genauso groß wie ich. Wir alle lachten in die Kamera. Meine Arme lagen um den Hals der Jungs. Wie alt war ich da gewesen? Fünf oder sechs? In diesen Jahren waren wir viel zusammen gewesen und die beiden hatten oft bei uns übernachtet.
Es war die Phase gewesen, in der Erich Sander sein Auslandsgeschäft aufbaute und dauernd unterwegs war. Julia Sander begleitete ihren Mann. Ich verstand nicht viel von dem, was Erich Sander machte. Er hatte das Unternehmen komplett aus dem Boden gestampft und zu dem gemacht, was es heute war. Begonnen als ein kleiner Betrieb, der sich mit Elektrotechnik beschäftigte, war die Firma „Elektronische Automatisierungssysteme Sander“, kurz EKTASYS, inzwischen ein mittelständisches Familienunternehmen mit Joint Ventures, Niederlassungen und Beteiligungen in vielen Ländern. Das Entscheidende waren wohl die vielen Patente, wie mir Henning mal erklärt hatte. In Deutschland fanden die Entwicklung neuer Technologien und die Produktion von speziellen Bauteilen statt; alles andere war inzwischen ausgelagert oder sogar ganz an Partnerunternehmen vergeben. Ein lukratives Geschäft, das auf dem feinen Gespür für technologische Entwicklungen aufgebaut war, welches Erich Sander auszeichnete.
Julia Sander kam aus einer wohlhabenden alten Unternehmerfamilie. Erich hatte sie bei einer dreitägigen Verbandsveranstaltung in Paris kennengelernt. Sie hatte ihren Vater begleitet, da ihre Mutter erkrankt war. Julia war eine Frau, genau wie er sie gesucht hatte. Attraktiv, mit Stil und vor allem mit besten Beziehungen zu allen möglichen Unternehmerfamilien, zu denen Erich Sander als neureicher Emporkömmling keinen Zugang besaß.
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