Dummendorf - Roman
von den Belehrungen des Rentners Gawrilow, traute er sich nicht, sich den Häusern hinterm Wald zu nähern, beobachtete das Leben der seltsamen Kommune aber interessiert von weitem.
»Noch so eine«, klagte die Alte, die sich bereits an Mitja gewöhnt hatte. »Genauso nutzlos wie du. Sie glotzt bloß und kauft nichts. Vielleicht sollte ich fürs Ankucken Geld nehmen?«
»Ich habe kein Geld.« Nastja lächelte. »Sonst würde ich ganz bestimmt etwas kaufen. Die Puschkin-Büste zum Beispiel. Meine Großmutter hatte genauso eine, nur ohne Nase – damit hat mein Vater als Kind Nüsse geknackt …«
»Kein Geld!«, höhnte die Alte. »Du wirst doch für die Dummen bestimmt gut bezahlt?«
Nastja schüttelte verlegen den Kopf.
»Sag bloß! Wer gibt sich denn für wenig mit denen ab? Na sag schon, wie viel«, beharrte die Alte.
»Gar nichts.« Nastja seufzte unwillkürlich, auf den in solchen Fällen üblichen Wortschwall gefasst.
Doch die Alte reagierte überraschend wortkarg.
»Hm, ja. Wunderlich sind deine Taten, Herr«, murmelte sie und ging ans andere Ende ihrer Schätze.
»Schauen Sie«, das Mädchen hielt Mitja das aufgeschlagene Fotoalbum im Ledereinband hin, so selbstverständlich, als wären sie erst gestern auseinandergegangen, »was für erstaunliche Gesichter diese Menschen haben. Wie von einem anderen Stern. Solche gibt es heute nicht mehr.«
Mitja stellte erstaunt fest, dass er überhaupt keine Scheu empfand. »Mir ist es irgendwie peinlich, sie anzusehen. Ein fremdes Leben, fremde Familien. Hier, eine Hochzeit, ein Kind wurde geboren, ›Gruß von Bruder Viktor aus Kungur‹ … Welches Recht habe ich, da reinzuschauen?«
»Ich empfinde sie nicht als Fremde, die nichts mit mir zu tun haben.« Nastja neigte den Kopf zur Schulter. »Ich kenne sie bloß nicht. Aber sie sind mir nicht fremd. Nein.«
Der Riese kam in seinem Laster angeknattert, knurrte seine Mutter böse an, weil sie nichts verkauft hatte, raffte den ganzen Plunder zusammen und entschwand in sein Heimatdorf, das er eigenhändig endgültig zerstörte.
Manchmal stellte sich Mitja unwillkürlich vor, wie es weitergehen würde. Wenn der Stumme alle Häuser bis auf den letzten Balken verkauft und seine Mutter begraben hatte und ganz allein zurückblieb auf der nackten Erde. Der Gedanke daran, wie überhaupt an die Zukunft, machte Mitja Angst. Wahrscheinlich war er deshalb Historiker geworden – die Vergangenheit war zwar auch grausig, aber sie konnte nicht mehr geschehen.
Nastja und Mitja warteten ab, bis sich der Staub gesetzt hatte, und schlenderten langsam die leere Straße entlang. Am Straßenrand lagen hier und da vertrocknete Häute von Kröten herum, die von Autos überfahren worden waren. Mitja wollte das Mädchen bis zum Dorfrand begleiten und sich dann verabschieden, doch Nastja schlug überraschend vor:
»Kommen Sie doch mit, ich mache Sie mit unseren Leuten bekannt. Ich sehe doch, wie Sie um uns rumschleichen und sich nicht rantrauen.«
»Keine Angst.« Sie lächelte, als sie Mitjas Verwirrung bemerkte. »Sie sind nicht gewalttätig, wie dieser komische Mann meint. Gewalttätige würde uns niemand anvertrauen!«
Nach dem Gottesdienst wollte auch Vater Konstantin einen Spaziergang zum Dummendorf machen. Aber daraus wurde nichts. Ljubka hatte wieder mal eine Krise. Sie hatte sich mit Kostja zerstritten, seine Jacke aus dem Fenster geschleudert und drohte lauthals, ins Sägewerk zu ziehen.
Angelockt von dem Lärm, drängten sich vor Ljubkas Hütte müßige Klatschbasen, strahlend vor Schadenfreude. Sie empfingen Vater Konstantin mit triumphierenden Blicken, als wollten sie sagen: Alle deine Bemühungen sind vergebens. Am liebsten hätte er sich umgedreht und gerufen: »Ja, sie sind vergebens! Aber wieso freut euch das so?«
Doch in diesem Augenblick entdeckte er Kostja und vergaß sie. Der Junge saß in den Kletten, den Rücken an den Zaun gedrückt, rupfte wütend das Gras um sich herum aus und sprach leise, wie ein Psychopath, vor sich hin: »Ich hasse dich!«
Das Kartenhaus war eingestürzt – wie nicht anders erwartet. Dennoch verzagte Vater Konstantin für einen Augenblick. Er wollte gehen. Plötzlich erinnerte er sich an das Leuchten des Mädchens heute, an ihr Gesicht, das der Welt entgegenflog, an ihren schutzlosen Blick. Und da konnte er nicht mehr zurückweichen. Er trat zu Kostja.
»Ich hasse dich!«, blaffte der.
Doch sein Ton hatte sich kaum merklich verändert, und Vater Konstantin wusste,
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