Dummendorf - Roman
wohlgestaltetes rotwangiges Gesicht war so verzerrt, dass Mitja zu seiner Schande an ein vorzeitiges Ableben des Rentners Gawrilow dachte. Aber Wassenka brachte eine ganz andere Nachricht. Er musste sie mehrmals wiederholen, bis Mitja den Sinn des Gesagten erfasste:
»Sanja hat Hand an sich gelegt.«
Sie rannten hinaus in den Regen. Im Laufen berichtete Wassenka, er sei wegen des Physikbuchs bei Sanja zu Hause vorbeigegangen. Er habe ihn nicht angetroffen und deshalb selbst nach dem dringend benötigten Buch gesucht.
»Ich komme in sein Zimmer«, plapperte Gawrilow junior aufgeregt, »da liegt auf dem Tisch ein Zettel: Macht’s gut, ihr alle, ich will nicht mehr leben auf dieser gemeinen Welt. Aber nirgends eine Leiche. Bestimmt hat er sich im Fluss ertränkt.«
»Red keinen Unsinn!«, rief Mitja keuchend. »Das Wasser ist nur knietief! Wer soll darin ertrinken!«
»Mit einem Stein um den Hals geht das schon«, widersprach Wassenka. »Oder am Wehr. Da sind die Männer mit Bootshaken hingelaufen.«
Sanjas Mutter, die dürre Schnapsbrennerin Alewtina, empfing sie mit jenseitigem bläulichem Gesicht an der Tür. In ihrer Hand bebten dicht beschriebene Heftseiten.
»Ich hab alles abgesucht«, sagte sie dumpf. »Ich habe auch das Testament gefunden. Hier, sehen Sie sich das an. Da steht auch was über Sie drin. Und über mich hat er sich ausgelassen, der kleine Mistkerl. Ich würde das Volk zum Suff verführen. Aber wovon hätte ich ihn denn ernähren sollen, den kleinen Saubermann? Von der Stütze? Ich hab so eine Wut!«
Sie drehte sich um und ging ins Zimmer. Mitja erfasste mit einem kurzen Blick die Spuren der fieberhaften Suche. Herausgezogene Schubladen, auf dem Boden verstreute Bücher. Ganz wie in seinem Alptraum aus der Kindheit, der sich plötzlich von unerwarteter Seite angeschlichen hatte.
Mitja ging hinaus an die Luft, zischte den hinter ihm schniefenden Wassenka böse an und begann zu lesen. In einem Aufsatz, der Abschiedsbrief überschrieben war, hatte Sanja ausführlich seine Kritik an der ganzen Welt dargelegt.
Mitja kämpfte sich mühsam durch die verschlungenen Nebensätze und die Zitate ohne Anführungszeichen und erfuhr, dass an Sanjas Tod die ganze Menschheit schuld war, alle ohne Ausnahme, besonders aber die Schnapsbrennerin Alewtina, die Sanja demonstrativ nicht Mutter nannte, der Busfahrer Wowka und der neue Lehrer, der zynisch den Sinn des Seins negiert . Angeliques Name blieb ritterlich ungenannt, doch den Schmerz der zertretenen Liebe erwähnte Sanja gleich drei Mal.
»Was jetzt?«, flüsterte Mitja, der bei den letzten Zeilen plötzlich glaubte, dass tatsächlich ein Unglück geschehen war.
»Die Miliz informieren!«, schlug Wassenka vor.
Mitja winkte ab und trottete nach Hause. Gawrilow junior rannte zurück zur Schule. Dank seiner eifrigen Bemühungen hatte er bald alle aufgescheucht.
Wowka ergriff die Flucht, Alewtina vergrub fluchend den Apparat zum Schnapsbrennen im Garten, Angelique lag ohnmächtig auf der Schulbank. Eine Stunde später traf nicht nur der Abschnittsbevollmächtigte in Mitino ein, sondern auch die goldzahnige Kreisschulchefin, bei deren Anblick die kleine Jewdokija sich ans Herz griff. Das Schicksal der Schule war besiegelt.
Der glotzäugige kurzatmige Sergeant okkupierte das Lehrerzimmer, befragte langatmig sämtliche Klassenkameraden von Sanja und schrieb alles Wort für Wort ins Protokoll. Mitja trat im Flur von einem Bein aufs andere und wartete darauf, dass er drankam.
»Na, genug Unheil angerichtet, Herr Träumer?«, fragte schadenfroh die Schulbeamtin, die Sanjas Brief bereits gelesen hatte. »Ich hatte es doch gleich im Gefühl, dass man Sie nicht hierher lassen darf!«
Mitja, der inzwischen restlos überzeugt war, an allem schuld zu sein, schwieg und ließ den Kopf noch tiefer hängen.
»Einsperren müsste man dich!«, zischte die Natschalniza. »Aber ihr Moskauer kauft euch ja sowieso frei. Für euch gilt kein Gesetz. Na, wenn schon. Aber die Jewdokija, die bringe ich vors Gericht. Hat sich an ihre Schule geklammert wie eine Katze, und bitte sehr – das ist das Ergebnis. Keinerlei Erziehungsarbeit, Verwahrlosung, mangelnde Aufsicht, Suizide …«
Mitten in diese Pläne hinein platzte der Fünftklässler Ilja Sergeitsch, der ebenfalls zum Verhör gebracht wurde. Unter den Fischaugen des Sergeanten geriet er ins Schwitzen, verplapperte sich, wusste nicht, wie er sich rauswinden sollte, und rückte mit der ganzen Wahrheit
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