Dungirri 01 - Schwarze Dornen
seine Fantasie?
»Da drüben habe ich Frösche und Kaulquappen beobachtet.« Sie zeigte auf den niedrigen Damm, nicht weit vom Gatter. »Aber selbst falls Tanya das auch gemacht hat, haben die Rinder den Boden zu sehr aufgewühlt, als dass noch Spuren zu finden wären.«
»Wo haben Sie noch gespielt?«
Sie drehte sich um und nickte zu den Findlingen hinauf. »Da oben. Von da kann man kilometerweit schauen.«
Ein Fort, eine Burg, ein Raumschiff, ein Segelboot - die Felsformation hatte ihrer jugendlichen Vorstellungskraft unendliche Möglichkeiten geboten, und sie hatte Stunde um Stunde allein dort oben verbracht und sich Geschichten ausgedacht. Fand Tanya den Platz dort oben ähnlich faszinierend wie sie? Vielleicht hatte das Mädchen aber auch zu viel Angst vor Spinnen und Käfern, um über die Felsen zu klettern.
Schweigend stapften sie nebeneinander den Hang hinauf. Sie sah Alec an, seine Stirn war gedankenverloren gerunzelt. Er hatte das Sakko ausgezogen und es sich über die Schulter gehängt. Die aufgekrempelten Ärmel des weißen Hemds stachen vom Braun der Handgelenke und Unterarme ab. Unter dem Schulterhalfter spannte sich der dünne Stoff über seinen muskulösen Oberkörper.
Auch als sie den Blick wieder nach vorn wandte, wich seine Präsenz nicht aus ihrem Bewusstsein. Er trug seine körperliche ebenso wie seine seelische Stärke mit unbeschwerter Leichtigkeit, und sie beneidete ihn um seine Ausgeglichenheit, sein Selbstvertrauen. Ihr war es nie gelungen, den emotionalen Abstand zu wahren, den man brauchte, um in diesem Job zu überleben. Die Jahre der Albträume waren dafür Beweis genug.
Sie zwang sich, langsam zu atmen, und wehrte sich verzweifelt gegen die Erinnerungen an die Träume des vergangenen Jahres. Albträume, die sie noch immer Nacht für Nacht in Todesangst und Hilflosigkeit schreiend aus dem Schlaf rissen.
Sie hatte sich Alecs Versprechen an die Wilsons ohne zu zögern zu eigen gemacht, denn schon in dem Moment, als er ihr sagte, dass wieder ein Kind vermisst wurde, hatte sie gewusst, sie würde alles geben, um diesen Fall zu
lösen. Auch wenn Tanya tatsächlich ihre eigene Tochter gewesen wäre, hätte sie sich die Sache nicht mehr zu Herzen nehmen können.
Plötzlich blieb Alec stehen, drehte sich um und blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Sie waren noch etwa zwanzig Meter von den Felsen entfernt. Hier oben auf dem abschüssigen Gelände gab es weniger Spuren der Rinder, denn die meisten waren näher am Wasser und auf ebenem Grund geblieben. Das bedeutete, sollte Tanya tatsächlich hier oben gewesen sein, würden sie womöglich noch Spuren finden können.
»Das ist ein ganz schöner Umweg«, stellte er fest. »Wäre sie wirklich so weit vom direkten Weg abgewichen? An einem heißen Nachmittag nach der Schule auf einen Hügel gestiegen?«
»Hatten Sie denn nie einen geheimen Schlupfwinkel?«, entgegnete Isabelle.
»So einen nicht.« Der Anflug eines wehmütigen Lächelns hellte seine Züge auf. »Ich bin in der Vorstadt groß geworden. Da gab es kaum einen vernünftigen Baum, auf den man klettern konnte.«
»Da ist ein Pfad.« Sie zeigte auf eine schwache, heruntergetretene Linie im Gras, die zu den Felsen führte.
Alec folgte ihrem Finger mit den Augen und nickte zustimmend.
»Keine schweren Füße, das Gras ist nur dünner, der Erdboden nicht aufgerissen«, erläuterte sie, während ihr Blick dem Pfad auf und ab folgte. »Könnte natürlich auch eine Wallaby-Fährte sein, aber es ist eine gerade Linie vom Damm zu den Felsen, so als würde sie regelmäßig hier entlanggehen.«
Die Findlinge, die sich über ihnen türmten, bedeckten
ein beträchtliches Areal, und der höchste ragte im Zentrum der Formation gute sechs Meter hoch auf. Auf der anderen Hangseite fiel das Gelände deutlich steiler ab, bis es sich allmählich in den flachen westlichen Ebenen verlor.
Plötzlich erkannte Isabelle, was sie die ganze Zeit, seit sie vor der Zwischenweide aus dem Wagen gestiegen waren, groß und breit vor der Nase gehabt hatten, und sie fluchte.
»Durch die Felsen und den Hang ist das Gelände vollständig vom Ort abgeschirmt. Der Entführer konnte sich hier auf die Lauer legen, ohne dass ihn jemand bemerkte.« Die Brust wurde ihr eng, und sie musste mit Gewalt Luft holen, um weiterreden zu können. »Er kannte sich aus, verdammt. Er hatte alles geplant. Er wusste, dass sie hierherkommen würde, und er wusste auch, dass eine Herde durchziehen würde, die seine Spuren
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