Dungirri 01 - Schwarze Dornen
verwischt.«
»Ein Einheimischer also. Kein Fremder von außerhalb.«
Sein Tonfall spiegelte ihre Gefühle wider: Die geringe Hoffnung, es nicht mit einem der Einwohner des Orts zu tun zu haben, zerfiel im Staub zu ihren Füßen.
Sie kletterte auf die Felsen und erinnerte sich an ihren alten Weg aus Kindertagen, an die Schritte einer Achtjährige. Es gab einen hohen, flachen Felsen, vier Meter oberhalb des Bodens, der einen wahrhaft majestätischen Ausblick eröffnete.
Alec folgte ihr, bis sie Seite an Seite dort oben im heißen Nordwind standen. Der lange Sommertag neigte sich dem Ende zu, und da die Sonne schon tief am Himmel stand, konnten sie im Westen kaum etwas erkennen. Isabelle wusste, dass es dort ohnehin nicht viel zu sehen
gab. Dungirri lag am Rand des Buschlands. Unter ihnen erstreckte sich die endlose Wildnis des Waldes; im Westen reihte sich eine umzäunte Weide mit braunem Gras an die nächste, in der Ferne waren eine Farm und ihre Nebengebäude als kleine Punkte zu erkennen, hier und dort verstreut Eukalyptusbäume. Die raue Schönheit der Ebene mit ihrem weiten Horizont, der sich über den Rand der Erde spannte, hatte es ihrem unsteten Geist seit jeher angetan. Nun aber schien ihr all dies bedrohlich, ein grenzenloser Raum, der weder seine Geheimnisse noch Tanyas Aufenthaltsort preisgab.
Sie drehte sich um und ließ den Blick über die anderen Felsen schweifen, als ihr zwischen dem flachen Felsen, auf dem sie standen, und dem angrenzenden Stein etwas Buntes ins Auge stach. Ein pinkfarbener Rucksack steckte tief in der Spalte und war nur zu entdecken, wenn man von ihrem Felsen aus direkt in die Kluft hinabsah. Ungeachtet der Hitze überlief sie ein kalter Schauder.
Sie sank auf die Knie, legte sich flach auf den Felsen und streckte den Arm in die Spalte, doch er war nicht lang genug. Alec legte sich neben sie und zog den Rucksack am Gurt herauf. Sie ging in die Hocke, griff danach und erschauderte erneut, als sie auf der Klappe des Rucksacks in großen, schwarzen Lettern den Namen »Tanya Wilson« las.
»Da ist noch etwas«, sagte Alec knapp und rutschte ein Stück vor, um an das Ding heranzukommen, das fast außer Reichweite seiner Fingerspitzen lag. Vorsichtig griff er danach, um keine Fingerabdrücke zu zerstören, dann zog er es heraus und drehte sich beim Aufstehen um, damit sie es sehen konnte. Ein einzelner, kleiner Schuh - Adidas oder Nike oder irgendeine andere der modernen Marken,
denen sie noch nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Ein neuer Schuh, kaum getragen. Das Klopfen ihres Herzens, das laut in ihrem Kopf widerhallte, schien jedes andere Geräusch zu übertönen.
»Das ist nicht Tanyas Schuh«, sagte sie so leise, dass sie es selbst kaum hörte. »Der gehört Jess.«
7
T räge an Alecs Finger baumelnd schien der Schuh sie zu verspotten.
»Sind Sie sicher?«, fragte Alec.
»Natürlich bin ich sicher.« Übelkeit stieg in ihr auf, und sie musste innehalten. Er, der Entführer, hatte ihn hier deponiert, um sie zu verhöhnen. Das spürte sie in ihrer heftig rumorenden Magengrube ganz genau. »Jess hatte zum Geburtstag neue Schuhe bekommen, drei Tage, bevor sie verschwand. Außerdem können Beth und Ryan sich solche Schuhe gar nicht leisten.«
Alec runzelte die Stirn. »Aber Jess wurde nicht hier entführt - sie wohnte am anderen Ende der Stadt.«
»Der Schuh ist sauber - er hat nicht das ganze letzte Jahr hier gelegen. Er hat ihn erst gestern hierhergebracht.«
»Aber warum? Wenn er davon ausging, dass die Rinder die Spuren zertrampeln und wir gar nicht erst hier oben suchen?«
»Falls wir es doch tun. Vielleicht hat er darauf spekuliert, dass ich zurückkommen würde, wenn er sich Tanya schnappt, und dass ich hier suchen würde. Er will uns zeigen - will mir zeigen -, dass wir im vergangenen Jahr versagt haben.«
Alec nickte bedächtig. »Und den anderen Schuh hat er in Dan Chalmers Haus deponiert, damit Jess’ Ermordung
Chalmers angehängt und die Ermittlung abgeschlossen wird, und jetzt demonstriert er uns, was für ein cleverer Kerl er ist.«
Beide starrten schweigend auf den baumelnden Schuh - die Schlussfolgerung war wahrhaft beängstigend. Isabelle war so übel, dass sie kaum Luft bekam.
»Großartige Methode, um uns davon abzuhalten, übermütig zu werden«, krächzte Alec schließlich mit ungewohnter Bitterkeit in seiner Stimme. Er griff in die Innentasche seines Sakkos, zog einen Asservatenbeutel hervor und ließ den Schuh hineinfallen.
In Isabelles
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