Dungirri 01 - Schwarze Dornen
umfing. Wenn Seelen sich entfalten - war es das, was gerade mit ihm geschah? Eine treffende Umschreibung für diese ungewohnten Empfindungen, die Leichtigkeit, die er verspürte. Als breite ein viel zu lang verleugneter Teil seiner selbst sich aus und fülle die leeren Stellen, von deren Existenz er nicht einmal etwas geahnt hatte.
Er musste Isabelle nicht anschauen, um sie in seinem Inneren zu sehen. Schöne, geheimnisvolle Bella. Die Worte, die sie eben gesprochen hatte, die gar nicht zu ihrem sonst so knappen, sachlichen Stil passen wollten, zeigten ihm Tiefen, die er wohl gespürt, in die sie ihm bislang aber keinen Blick gewährt hatte.
Eine Erinnerung tauchte in seinen Gedanken auf, und plötzlich wusste er, woher das Zitat stammte. Der Band mit Kurzgeschichten von einem seiner australischen Lieblingsschriftsteller stand in seinem Bücherregal gleich neben den drei Romanen desselben Verfassers.
»Patrick O’Connell.« Leise sprach er den Namen des Autors in die Stille.
Langsam löste sie den Blick vom Firmament und begegnete der Frage in seinen Augen. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass sie wirklich ihn sah, den Menschen, nicht den Detective, doch ihre stumme Würdigung verriet nichts von den Gedanken, die hinter ihren verschatteten Augen lagen.
»Mein Vater«, sagte sie nach einer Weile.
Er nickte, und wieder fügte sich ein Teil des Puzzles an seinen Platz. Was O’Connell als Schriftsteller auszeichnete, war seine einzigartige Einsicht in die menschliche Natur, und jede seiner individuellen Figuren basierte, voller Mitgefühl und Realismus, auf eigenen Erfahrungen im australischen Busch.
Das Wissen um die Verwandtschaft mit O’Connell brachte Alec dem Verständnis von Bellas vielschichtiger Natur einen Schritt näher. Sobald sie ihren Schutzschild einen Moment sinken ließ, kam darunter dieselbe emotionale Tiefe, seelische Verbundenheit und natürliche Einsicht in das Wesen der Menschen zum Vorschein, die auch die Werke ihres Vaters auszeichneten. Doch irgendwann im Lauf ihres Lebens waren ihr die stille Freude und der Optimismus abhandengekommen, die ebenso typisch für seine Texte waren.
»Es hat ihn wirklich gegeben, den alten Mann, der das gesagt hat«, erzählte sie freimütig, ohne dass ihre gedämpfte Stimme das leise Dunkel allzu sehr gestört hätte. »Jede Nacht, wie ein Gebet … einen Segensspruch. Wir lernten ihn im Sommer beim Zelten kennen. Ich muss damals neun oder zehn gewesen sein. Die Leute haben gesagt, er sei nicht ganz richtig im Kopf, dabei war er vernünftiger als die meisten, die ich kenne. Ich wusste gar nicht, dass mein Vater ihn ebenfalls im Gedächtnis behalten
hatte, bis er dann Jahre später diese Kurzgeschichte schrieb.«
Hundert Fragen gingen ihm durch den Kopf. Er hielt den Atem an und stellte keine einzige davon, er wollte die zarte, neue Verbindung zwischen ihnen nicht zerstören. Seit er ihr begegnet war, hatte sie nicht so viel von sich preisgegeben, wie in diesen knappen Sätzen.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem kurzen, schiefen Lächeln. »Verrückt, oder? So etwas über all die Jahre im Gedächtnis zu behalten.«
Er schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht verrückt.«
Ein Auto brauste auf der Straße von Birraga heran, und mit dem Dröhnen des Motors und dem Licht der Scheinwerfer drängte die Realität sich in ihren gestohlenen Augenblick hinein.
Als gut erzogener Hund verzog Finn sich auf den Bürgersteig, und die beiden folgten ihm. Beim Schritt über den hohen, unebenen Rinnstein kam Bella ins Straucheln. Sie verlor das Gleichgewicht, stürzte auf ihn zu, und er fing sie mit einem Arm um die Taille auf. Der frische Duft ihres Haars, der Druck ihres Körpers löste eine Lawine von Empfindungen in ihm aus und riss die Gemütsruhe fort, die er noch Sekunden zuvor verspürt hatte.
Sein Atem stockte, als der dringende Wunsch, sie ganz in seine Arme zu ziehen, alle anderen Gedanken auslöschte. Und beinahe hätte er es getan. Fast hätte er die Selbstbeherrschung verloren und dem Sehnen nachgegeben, das schon den ganzen Tag unbewusst in ihm pochte.
Etwas rieb sich an seinem Bein, und als das Auto vorüberfuhr, funkelten Finns Augen ihn im Widerschein des Scheinwerfers wolfsgleich an.
Das Missfallen des Hundes setzte sein eigenes Gewissen
wieder in Gang. Verdammt, er leitete diese Ermittlung, und er hatte kein Recht, solche Gedanken gegenüber einer Kollegin zu hegen. Vor allem nachdem er sie in eine derart belastende Situation gebracht hatte.
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