Dungirri 01 - Schwarze Dornen
unkomplizierten Gedanken, so war Joe.
Jemand, der ein so kaltblütiges Spiel mit der Polizei spielte, würde in ihrer Gegenwart doch nicht plötzlich nervös werden? Dieser Mensch wäre selbstgefällig und würde über sie alle lachen, zumindest innerlich.
Urplötzlich kam ihr das kalte Kichern ihres Angreifers in den Sinn, und sie durchlitt noch einmal jene Momente, in denen sie um ihr Leben gekämpft hatte. Sie verschloss die Augen vor der Erinnerung und holte tief Luft.
»Isabelle? Was ist?«
Alecs Stimme verband sie mit der Gegenwart und verhinderte, dass sie in den Erinnerungen an die Sinneseindrücke ertrank, während sie nach dem Schlüssel tauchte, von dem sie spürte, dass er einfach da sein musste .
Und dann hatte sie ihn, einen Tropfen Klarheit inmitten der Furcht. Sie öffnete die Augen und sah in Alecs besorgtes Gesicht.
»Gestern Abend auf dem Balkon, das war nicht Joe. Da bin ich mir sicher.«
»Weshalb?«
»Er ist kleiner als ich - nur gut eins fünfundsechzig oder so. Aber derjenige, der mich überfallen hat, war eindeutig
größer. Ich erinnere mich an seinen Atem auf meinem Scheitel.«
Hier im Gemeindesaal, umringt von drei Kollegen und Finn, war sie sicher, und doch fuhr bei der Erinnerung an diesen bösartigen Lufthauch ein Schauder durch ihren Körper, den sie nicht bändigen konnte. Und dann schälte eine zweite Erkenntnis sich heraus, so klar und kalt, dass sie ihr für einen Moment den Atem verschlug.
»Wenn …« Sie zwang sich dazu, ihren Worten ein Mindestmaß an Objektivität zu verleihen. »Wenn er wirklich meinen Tod wollte, warum hat er dann im Hotel nicht ein Messer oder eine Pistole genommen? Beides wäre schneller und wirkungsvoller gewesen.«
Sie würde sich jetzt nicht ausmalen, wie ein Messer in ihren Rücken fuhr oder ihre Kehle durchschnitt, doch ihrer Entschlossenheit und der Hitze im Raum zum Trotz nahm ihr Zittern zu, und sie wandte sich ab, damit es niemand bemerkte.
»Du meinst, es ist nur ein Teil des Spiels? Dir Angst zu machen?«, fragte Alec mit rauer Stimme.
»Ja. Katz und Maus, nur, dass ich nicht die verdammte Katze bin.«
Bestürzt stellte sie fest, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. An einer nicht weit entfernten Schreibtischkante stand ein Papiertuchspender, zu dem sie sich flüchtete, um sich, den anderen den Rücken zugewandt, die Nase zu putzen und die Augen zu trocknen. Aber natürlich hatten es alle bemerkt, und als sie zurückkam, legte Kris ihr tröstend die Hand auf die Schulter, und Steve brummte: »Wir kriegen den Dreckskerl, Bella.«
Alecs durchdringendes Schweigen lenkte ihre Aufmerksamkeit von Steve und Kris ab. Zorn loderte im blauen
Feuer seiner Augen, und weiß klammerten seine Hände sich an die Tischkante, ein völliger Gegensatz zu seiner sonstigen Selbstbeherrschung. Etwas Machtvolles hatte von ihm Besitz ergriffen, überlegte sie, völlig verwirrt von der ungezügelten Wildheit seiner Reaktion. So etwas, was ihr selbst erst vor wenigen Stunden, als die Schlange sein Leben bedroht hatte, in die Eingeweide gefahren war. Seine Wut war nicht mit professioneller Besorgnis zu erklären oder mit dem Druck, jemanden verhaften zu müssen, Erfolge vorzuweisen. Auch nicht mit »Sympathie« oder »Respekt« oder sonst einem unverfänglichen Begriff, mit dem sie bis jetzt versucht hatte, sich das Unerklärliche zu erklären. Es war aussichtslos, dieses verrückte, unlogische, hoffnungslose, beängstigende Etwas feinsäuberlich in einen Karton packen zu wollen, den Deckel zuzuklappen, ein Schildchen dranzuhängen und es in ein Gedächtnisregal zu schieben und dort zu vergessen.
Irgendwann und irgendwie würde sie sich ihm stellen müssen. Würde sie der lähmenden Furcht vor der eigenen Verwundbarkeit ins Auge sehen müssen, ebenso wie dem sicheren Wissen, nicht heil genug zu sein, nicht mehr genug in sich zu tragen, um einem anderen zu vertrauen oder sich ihm zu schenken.
Wenn sie zulassen würde, dass sie für Alec mehr empfand als für andere - Kris, Steve, Jeanie, ja selbst Beth -, würde sie in einen Mahlstrom der Gefühle stürzen, den zu ertragen sie nicht mehr die Kraft hatte.
Der Nachmittag wurde zum Abend, der Abend zur Nacht, und der unausgesprochene Druck, den Albtraum zu beenden, Tanya zu finden, Bella zu schützen, trieb Alec weiter an.
Mit der Nachricht vom Mord an Gillespie und dem Verschwinden von Ward verbreitete sich die Furcht wie eine Seuche im ganzen Ort. Die unausgesprochene Frage - wer wird der Nächste
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