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Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Titel: Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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angenommen hatte, und ein gutes Stück jünger. Von den neunhundertundzwölf Jahren, die sie ihm genannt hatte, waren mindestens achthundertundneunzig gelogen; wahrscheinlich mehr. Ihre Frisur entzog sich jedem Versuch, sie zu beschreiben. Sie ähnelte etwas, was von einer Perserkatze übrig bleiben mochte, nachdem man sie in eine Mikrowelle gestopft und eine dreiviertel Stunde gegrillt hatte. Es gelang Jan nicht einmal, ihre Haarfarbe genau zu definieren.
    Zu seiner Erleichterung kam in diesem Moment der Kellner und brachte die bestellten Getränke und eine Speisekarte für Vera. Sie warf einen flüchtigen Blick hinein und bestellte, ohne zu zögern, ein großes T-Bone-Steak und eine doppelte Portion Pommes Frites. Der Kellner nahm die Bestellung schweigend entgegen, warf Jan aber einen fragenden Blick zu, den dieser mit einem Achselzucken beantwortete.
    Als sie wieder allein waren, sagte Vera: »Hör mal – wenn es dir unangenehm ist, daß wir hier zusammen sitzen, dann mußt du es nur sagen.«
    Sie war eine gute Beobachterin. Und vielleicht war das seine letzte Chance, schnell und ohne weitere Probleme aus der Geschichte herauszukommen. Aber er war im Zugzwang, und letztendlich stand er in ihrer Schuld.
    »Unsinn«, sagte er. »Wenn Sie nicht gewesen wären, dann wäre ich jetzt schon wieder auf dem Weg ins Krankenhaus. Wenn nicht Schlimmeres.«
    »Das stimmt«, sagte Vera. Sie grinste. »Gut, daß du es so siehst. Aber wieso ›schon wieder‹?«
    Die Frage kam so überraschend, daß Jan um ein Haar darauf geantwortet hätte. Aber eben nur um ein Haar. Es ging sie nichts an. Was um alles in der Welt tat er eigentlich hier?
    »Du willst nicht darüber reden«, stellte Vera fest, als er nicht antwortete. »Auch okay. Ist deine Sache. Und was tustdu sonst – wenn du dich gerade nicht von Straßenbahnen überfahren läßt?«
    »Ich bin Fotograf«, antwortete Jan. »Und was machen Sie – wenn Sie gerade keine verwirrten Fotografen vor dem Überfahrenwerden retten?«
    »Mal dies, mal das«, antwortete Vera ausweichend. Sie rückte ihre Sonnenbrille zurecht. »Meistens nichts, um ehrlich zu sein.«
    »Nichts?«
    »Es findet sich immer jemand, der einem einen Kaffee spendiert – oder ein Steak.« Sie lachte. »Du bist Fotograf. Für die Zeitung?«
    »Manchmal«, antwortete Jan. »Meistens mache ich freie Bilder.«
    »Freie Bilder?«
    »Ich bin freischaffend«, antwortete Jan.
    »Ein Künstler?«
    Jan sah sie scharf an, suchte aber vergeblich nach einem verächtlichen Unterton in ihrer Stimme, oder auch nur Spott. Sie war offenbar einfach nur neugierig.
    »So könnte man es nennen«, antwortete er. »Aber nur ein kleiner. Und kein besonders erfolgreicher, fürchte ich. Aber es reicht zum Leben.«
    »Und für ein Steak für eine Lebensretterin?«
    »Zur Not«, antwortete Jan. »Und wenn alle Stricke reißen, habe ich hier Kredit.«
    Es sollte ein Scherz sein, aber Vera drehte sich im Stuhl herum, warf einen langen, nachdenklichen Blick durch die Glastür ins Innere des Restaurants und sagte dann ernst: »Dann kannst du nicht ganz so erfolglos sein.«
    »Wieso?«
    »Der Laden ist nicht ganz billig. Wenn du hier Kredit hast, mußt du ein Stammgast sein.«
    Wie er schon einmal festgestellt hatte: Sie war eine aufmerksame Beobachterin.
    »Erwischt«, gestand er. »In Wahrheit bin ich ein weltberühmter Starfotograf. Und ich wollte mich vor den Zug werfen, weil ich mit meinem letzten Foto nicht zufrieden war. Wolltest du das hören?«
    Er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, daß ihm das vertraute ›Du‹ herausgerutscht war. Gleich ob Vera es benutzte oder nicht, war das förmliche ›Sie‹ für ihn bisher doch ein Schutz gewesen, den er nun ohne Not verschenkt hatte. Er begann sich ernsthaft den Kopf darüber zu zerbrechen, wie er aus dieser Situation herauskommen konnte, ohne das Gesicht zu verlieren. Nicht Vera, sondern den Kellnern des Restaurants gegenüber.
    »Soll ich besser gehen?« fragte Vera unvermittelt. Die Offenheit dieser Frage überraschte Jan nicht nur, sie machte es ihm auch unmöglich, ehrlich zu antworten, nämlich mit einem klaren Ja. Er war nicht ganz sicher, ob diese Ehrlichkeit nun wirklich aufrichtig wäre oder pure Berechnung.
    Was im Ergebnis allerdings keinen Unterschied machte. Jan gestand sich endgültig ein, daß er diesem Mädchen nicht gewachsen war.
    »Nein«, antwortete er. »Ich bin einfach nur … ein bißchen durcheinander. Es hat nichts mit dir zu tun.«
    »Sondern mit

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