Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
steif. »Wenn Sie nicht gewesen wären –«
»– dann wärst du jetzt Hackfleisch«, unterbrach ihn seine Retterin. Sie schüttelte den Kopf und sah ihn durch ihre Sonnenbrille hindurch auf undeutbare Weise an. »Was war los mit dir? Du bist entweder der ungeschickteste Selbstmörder, der mir je begegnet ist, oder ziemlich zerstreut.«
»Ich hatte … einen schweren Tag«, antwortete Jan ausweichend. »Mein Name ist übrigens Jan. Jan Feller.«
»Ich heiße Vecha«, antwortete die junge Frau, wobei sie den Namen auf eine sehr ungewöhnliche Weise aussprach. Es klang wie das Fauchen einer zornigen Katze.
Jan blickte fragend, und Vecha legte den Kopf auf die Seite und lächelte knapp. »Keiner kann das richtig aussprechen«, sagte sie. »Meine Alten müssen echt einen an der Ratsche gehabt haben, sich diesen Namen auszudenken. Nenn mich einfach Vera. Das tut jeder.«
»Vera, o.k.« Jan nickte. »Ein ungewöhnlicher Name, woher stammt er?«
»Transsylvanien«, antwortete Vera. »Und ehe du fragst: Ichbin neunhundertundzwölf Jahre alt, und meine Eltern sind im sechzehnten Jahrhundert auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Eine der ganz wenigen Möglichkeiten, uns wirklich umzubringen.«
Jan war für einen Moment nicht sicher, ob er lachen oder wütend werden sollte. In Veras Stimme war auf einmal eine Aggressivität, die ihn überraschte, zugleich aber auch warnte. Sie wollte nicht über sich reden.
»Ich wollte nicht fragen«, sagte er.
»Dann ist es ja gut.«
Die Tür ging auf, und ein Kellner kam heraus; genau im richtigen Moment, um den peinlichen Augenblick zu überbrücken. Er wirkte ein bißchen überrascht, die beiden Gäste auf der kalten und allmählich in Dämmerung versinkenden Terrasse zu sehen, war aber natürlich viel zu höflich, sich auch nur einen entsprechenden Blick zu gestatten; außerdem kannte er die Höhe der Trinkgelder, die Jan normalerweise gab.
Jan bestellte einen Kaffee für sich und einen Cappucino für Vera. Als sich der Kellner herumdrehte und gehen wollte, fragte er: »Auch etwas zu essen?«
»Warum nicht?« fragte Vera. »Der Laden sieht aus, als wäre die Küche akzeptabel.«
Jan warf dem Kellner einen entsprechenden Blick zu, ignorierte dessen mißbilligendes Stirnrunzeln und wartete, bis sie wieder allein waren. Es wurde jetzt immer schneller dunkel, und Veras Gesicht schien irgendwie … mit der Dämmerung zu verschmelzen. Ihm fiel kein anderes Wort dafür ein, so sehr er sich auch bemühte. Je schwächer das Tageslicht wurde, desto mehr schienen sich Veras Umrisse in der grauen Dämmerung zu verlieren, als wäre sie nichts als eine Statue aus grauem Eis, die sich im warmen Wasser auflöste. Nur ihre Sonnenbrille schien Bestand zu haben. Obwohl das Licht jetzt selbst fürJan kaum noch ausreichte, um die Tischdecke vor sich zu erkennen, machte sie keine Anstalten, die dunklen Gläser abzunehmen.
»Was war los mit dir?« fragte Vera. »Ich meine: vorhin. Du hast dagestanden wie vom Donner gerührt. Wenn ich dich nicht weggerissen hätte, dann wärst du jetzt tot. Oder wenigstens schwer verletzt.«
»Ich weiß«, sagte Jan. »Und ich bin Ihnen auch wirklich dankbar.« Er hob die Schultern. »Wie gesagt: Ich hatte einen schweren Tag.«
»Er muß ziemlich schwer gewesen sein«, entgegnete die junge Frau spöttisch.
»Ich kann auf eine Wiederholung verzichten«, sagte Jan. Er begann sich immer unbehaglicher zu fühlen. Dieses sonderbare Mädchen hatte ihn zweifellos gerettet; vielleicht nicht vor dem Tod, aber ganz bestimmt vor einer üblen Verletzung. Trotzdem wünschte er sich, daß der Kellner käme und den bestellten Kaffee brachte, damit diese Geschichte endlich vorbei war. Er hatte wirklich genug andere Probleme.
»Ich auch«, sagte Vera. »Dieses Kaff ist nicht besonders attraktiv.«
Jan blickte zwar fragend, hütete sich aber, auch eine entsprechende Frage zu stellen. Er begann es bereits zu bedauern, Vera überhaupt eingeladen zu haben. Unhöflich oder nicht, er hätte es bei einem Dankeschön belassen sollen. Ohne daß es einen konkreten Grund dafür gegeben hätte, hatte er immer mehr das Gefühl, den Teufel gegen den Beelzebub eingetauscht zu haben.
Übergangslos flammte die Außenbeleuchtung auf. Jan blinzelte, während Vera weiter durch ihre übergroße Sonnenbrille geschützt blieb.
Auch bei Licht betrachtet, sah Vera kaum weniger abenteuerlich aus als in der Dämmerung. Sie war sehr blaß – vermutlichkrank – und noch kleiner, als er bisher
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