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Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Titel: Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sich mit schnellen Schritten nach links. Er mußte zwar einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, um sich dem Rathaus aus der Richtung zu nähern, in der die Einfahrt der Tiefgarage lag. Aber er wollte Peter zu allem Überfluß nicht auch noch verpassen. Eigentlich hatte er nicht einmal mehr Lust, sich mit ihm zu treffen. Was immer sein Bruder ihm zu sagen hatte, hatte Zeit bis später. Er hätte nicht einfach so weglaufen sollen. Ein Streit mit Katrin war niemals angenehm, aber ihm auszuweichen, indem er vor ihm davonlief, machte alles nur schlimmer. Vor allem, wenn er sich insgeheimeingestand, daß sie im Recht war. Er hätte nicht so überzogen reagieren sollen. Er hatte hundertprozentig recht gehabt, aber durch seine vollkommen übertriebene Reaktion hatte er sich selbst jedes Vorteils beraubt und alle seine Argumente zu Makulatur gemacht. Er würde das Gespräch mit Peter hinter sich bringen, so schnell es ging. Dann würde er nach Hause fahren – nicht ohne vorher einen Blumenstrauß gekauft zu haben.
    Er erreichte das »Früh« – die jugendlichen Betrunkenen waren mittlerweile verschwunden –, und obwohl er durch die kleinen Butzenscheiben hineinsehen und erkennen konnte, daß das Lokal gut besetzt war, drang nicht der kleinste Laut auf die Straße heraus. Er bog nach rechts ab und wäre um ein Haar stehengeblieben, so seltsam war der Anblick, der sich ihm bot. Dabei konnte er nicht einmal genau sagen, was daran so unheimlich war.
    Die Straße war nicht sehr breit. Die meisten Häuser waren neu, aber bemüht, einen historischen Eindruck zu machen, was ihnen normalerweise nicht einmal im Ansatz gelang.
    Heute schon.
    Es war, als werfe er einen Blick in die Vergangenheit. Die Straße lag fast vollkommen dunkel vor ihm. Die beiden, antiken Straßenlaternen nachempfundenen Lampen rechts und links der Kreuzung spendeten hinlänglich Licht, aber es schien sich irgendwo dicht hinter seiner Quelle … zu verlieren. Ein anderes Wort fiel Jan dafür nicht ein. Und dasselbe galt für die erleuchteten Schaufenster, die Neonreklamen und hellerleuchtete Fassade des Rathauses zwei oder dreihundert Meter entfernt. All dieses Licht war da und zugleich auch nicht. Es war, als betrachte er zwei übereinandergelegte Negative desselben Motivs, die vom gleichen Standpunkt aus, aber mit einem zeitlichen Abstand von mindestens zweihundert Jahren gemacht worden waren. Das Neonlicht erreichte nicht die wirkliche Straße, denn es vermochte den Raum zu überwinden, aber nicht die Zeit.
    Jan blinzelte. Das unheimliche Bild blieb.
    Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Nichts änderte sich. Er stand da und starrte eine Straße an, die vollkommen greifbar und altvertraut war, zugleich aber auch absolut fremd und furchteinflößend erschien.
    Natürlich war das Unsinn. Das mit Abstand Gefährlichste auf dieser Straße war die Vogelspinne, die in einem Glaskasten im Schaufenster des Zooladens hockte, und befremdlich waren allenfalls die Preisschilder im Schaufenster des Juweliers. Und sicherlich stammte keines der Häuser vor ihm aus der Zeit vor dem Krieg.
    Unglücklicherweise befand er sich in einer Stimmung, in der das, was sein Verstand sagte, so gut wie nichts mehr galt. Die Dunkelheit, die hinter dem Licht lauerte, hatte längst von ihm Besitz ergriffen, und sie würde ihn auch nicht mehr loslassen.
    Er machte einen Schritt rückwärts, und es war, als würde die Straße ihm folgen. Er befand sich noch immer an der gleichen Stelle, und so blieb es auch nach dem zweiten, dritten und vierten Schritt.
    Sein Herz begann heftig zu pochen. Irgendwo ganz, ganz tief in seinen Gedanken war eine Stimme, die ihm zuschrie, daß er sich umdrehen und davonrennen sollte, solange er es noch konnte und bevor die Tore zum Reich des Wahnsinns endgültig hinter ihm zugefallen waren.
    Doch es war bereits zu spät. Sein Herz raste immer schneller. Er zitterte am ganzen Körper, und auf seiner Stirn stand kalter, klebriger Schweiß in mikroskopisch kleinen Tröpfchen. Er hatte gar nicht mehr die Kraft, sich herumzudrehen.
    Statt dessen machte er einen Schritt nach vorne und trat tiefer in das Dunkel hinein, das hinter der Wirklichkeit auf ihn wartete.
    Er wußte nicht genau, was er erwartet hatte, doch daß nichts geschah, überraschte ihn. Die Welt blieb, wie sie war: zweigeteilt in einen Bereich des Hellen und Vertrauten und in ein Reich der Dunkelheit und des Irrsinns.
    Eine Sinnestäuschung.
    Eine Halluzination, ganz besonders bizarr und

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