Dunkel wie der Tod
nur weil da mal ein Bursche steht, der sich so anzieht, als ob er ein bisschen Kleingeld übrig hätte.â
Die Mädchen warfen sich verträumte Blicke zu und seufzten schwärmerisch.
âEs war nicht wegen seiner Kleidung, du Schwachkopfâ, sagte Cora. âEr hatte ein Gesicht wie eine von diesen römischen Statuen! Du bist nur neidisch, weil kein Mädchen dich so anschaut.â
Otis tat, als hätte er sie gar nicht gehört, und fuhr fort: âDie Glocken schlugen also zum Feierabend, und alle kamen aus der Fabrik gelaufen. Und drauÃen steht dieser Virgil und wartet auf Bridie. Sonst hat er immer irgendwo anders auf sie gewartet, aber an dem Abend stand er direkt vorm Tor.â
âHat er sie oft von der Arbeit abgeholt?â, wollte Nell wissen.
âManchmal auch unter der Wocheâ, sagte Otis. âAber am Freitag und Samstag immer. Ich weià nicht, was sie am Freitag gemacht haben, aber â¦â
âAch nein?â, bemerkte Ruth und brach mit den anderen Mädchen in Gelächter aus.
â⦠aber am Samstag sind sie auf jeden Fall immer wo hingefahrenâ, fuhr Otis unbeeindruckt fort. âVor ein paar Wochen hab ich mit Nat aus der Spinnerei geredet, und der hat erzählt, dass er Bridie mal gefragt hatte, ob sie Samstag nach der Arbeit mit ihm spazieren gehen will, und da hättâ sie gesagt, sie kann nicht, weil ihr Freund sie abholt und sie zum White House fahren.â
Nell runzelte verwirrt die Stirn und überlegte, ob sie sich verhört hatte.
âNatürlich nicht das WeiÃe Hausâ, sagte Otis schnell. âAber so hat sieâs gesagt â wahrscheinlich irgendein Haus, das weià ist oder so. Sie meinte, dass es ein alter Bauernhof wär, der nicht mehr bewirtschaftet wird, aber das Haus würd noch dastehen, und da würden sie und Virgil immer hinfahren, um ihre Ruhe zu haben.â
âVirgil stand also am Freitagabend direkt am Tor â¦â, drängte Nell ihn weiter.
âGanz genau, und sowie er Bridie sieht, schnappt er sie sich und küsst sie â aber so richtig â, wo alle andern zuschauen können, auch Mr. Harry. Sie hat gekocht vor Wut, das hätten Sie sehen sollen, hat sich aber zusammengerissen, bis sie ganz rot angelaufen war.â
âWarum war sie denn so wütend?â, fragte Nell verwundert. âSie und Harry waren doch kein richtiges Paar, und er hatte ja selbst einige andere Mädchen, die ihm ⦠gaben, was er wollte.â
âJa, wirklich komischâ, fand auch Ruth. âAber ich sag Ihnen, er war auch fuchsteufelswild! Rannte wutschnaubend wieder nach drinnen. Bridie und Virgil sind dann gegangen, aber als wir andern dann kurz darauf hierherkamen, um eine zu rauchen, haben wir sie gehört. Sie und Virgil haben sich im Wäldchen gestritten. Sie hat ihn angeschrien, weil er gekommen war und sie da vor Mr. Harry geküsst hat.â
âSie hat Virgil gegenüber Mr. Harry erwähnt?â, vergewisserte sich Nell.
Otis grinste. âTja, sieht so aus, als ob er von Mr. Harry wusste, aber Mr. Harry nicht von ihm.â
âBis zu dem Kussâ, fügte Mary vielsagend hinzu. âBridie hat Virgil angeschnauzt, dass er alles kaputt gemacht hätte. âJetzt kriegen wir keinen einzigen Cent mehr aus ihm rausâ, hat sie gesagt.â
Nell sah von ihrem Skizzenbuch auf. âDas hat sie gesagt?â
âAber ja doch.â Otis warf seine Kippe in den Fluss. âHat sich wohl entschlossen, mehr aus ihm rauszuholen als was Hübsches zum Anziehen. Von Virgil haben wir nicht viel gehört, auÃer dass er sie beruhigen wollte. Als er dann was gesagt hat, war es so leise, dass wir kaum was verstanden haben. Aber von ihr konnte man jedes Wort hören. Diese irischen Mädels kommen richtig in Fahrt, wenn sie wütend sind.â
âWar Evie bei euch?â, wollte Nell wissen.
âJa, war sie.â
âUnd wann ist Bridie gefeuert worden?â
âAm Tag draufâ, sagte Ruth. âSamstag. Wir haben alle gewartet, dass es zur Mittagspause läutet, da kam dieser Handlanger von Mr. Harry an â Carlisle â und holte Bridie nach oben ins Büro. Sie stolziert davon mit diesem gewissen Lächeln, als ob sie was Bessâres wär, nur weil sie für ihn die Beine breit macht. Und zehn Minuten später war sie schon wieder zurück, knallrot im Gesicht und ganz verheulte Augen.
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