Dunkel wie der Tod
Evie und ich wollten wissen, was los ist, aber sie hat uns nicht mal angeschaut. Kein einziges Wort hat sie gesagt, sich die Schürze abgenommen, ihr Schultertuch aus ihrem Fach geholt, und weg war sie. Seitdem hab ich sie nicht mehr gesehen.â
Mary streckte sich und rieb sich den Arm. âSind Sie jetzt endlich fertig?â
Von der Fabrik her war das Läuten der Glocke zu hören, die sie wieder zur Arbeit rief.
âJa, ich glaube schonâ, meinte Nell.
4. KAPITEL
âSchon fertig?â, fragte Brady vom Kutschbock herab, als Nell zu dem in der Sonne glänzenden schwarzen Brougham der Hewitts zurückkehrte und sich ihre Handschuhe zuknöpfte.
âFast. Bevor wir fahren, muss ich aber noch mit Mr. Harry sprechen.â
âLassen Sie sich ruhig Zeit, Missâ, meinte er. âIch habe gegen diesen herrlichen Sonnenschein nichts einzuwenden, ganz gewiss nicht.â Brady war ein gutmütiger Ire in mittleren Jahren und einer der wenigen Bediensteten im Haushalt der Hewitts, der Nell herzlich zugetan war und mit dem sie sich gut verstand.
âDie Sache ist die ⦠Ich hatte mir überlegt, dass Sie vielleicht mit hinaufkommen könnten.â
âZu Mr. Harry?â, vergewisserte Brady sich, belustigt und verwirrt zugleich.
âJa.â
Sein Lächeln verschwand, als ihm aufging, worum sie ihn bat: Nell wollte nicht mit Mr. Harry allein sein. Er hatte bereits den Mund geöffnet, als wolle er sie fragen, warum, schien es sich dann aber anders zu überlegen, was Nell zutiefst erleichterte. Sie mochte Brady und hatte keine Lust, sich irgendeinen Grund auszudenken, warum sie ihn dabeihaben wollte, denn die Wahrheit würde sie ihm gewiss nicht erzählen. Viola Hewitt hatte bereits einen Sohn in Andersonville verloren und einen weiteren an die berauschende Macht des Morphiums. Es würde sie umbringen, wenn sie erfuhr, was letzten Mai zwischen Harry und Nell vorgefallen war â wenn sie erfuhr, welch ein Unmensch sich unter dem eleganten ÃuÃeren ihres Sohnes verbarg.
Zusammen mit Brady wartete Nell vor Harry Hewitts schmuckem lichtdurchfluteten Büro im Vorzimmer des Sekretärs. Durch die Glasscheibe in der Tür begegnete sie Harrys Blick.
Sein goldblondes Haar war leicht geölt, doch gerade nur so viel, dass es mit dezent teurem Glanz schimmerte. Harry lehnte mit einer Zigarre und einem Glas Whiskey an der Marmorplatte seines Schreibtischs. Wie immer war er schick gekleidet, trug einen schiefergrauen Gehrock und eine paisleygemusterte Krawatte, die jedoch nicht zu einem Knoten aufgebunden war, sondern durch einen Siegelring gezogen glatt herabhing. Diese Mode hatte der auf exzentrische Weise elegante Mr. Dickens während seiner Lesereise im letzten Jahr nach Amerika gebracht, doch wurde sie in Boston Nells Wissen nach von niemandem auÃer Harry nachgeahmt. Er bot äuÃerlich eine formvollendet elegante Erscheinung, beeinträchtigt nur durch den Makel einer winzige Narbe auf seinem linken Augenlid â deren Herkunft allein Harry und Nell bekannt war â, die das Lid ein wenig herabhängen lieÃ.
An einem Kleiderständer in der Ecke hing ein Kaschmirmantel, einer jener neuen, furchtbar aussehenden Homburg-Hüte, ein Spazierstock mit silbernem Knauf und ein langer perlgrauer Herrenschal aus schwerem Seidenstoff, bestickt mit Harrys weinlaubumkränztem Monogramm. Ein Dutzend weiterer Schals in allen Farben des Regenbogens hingen an Haken entlang der Wand. Harrys Schals waren, ebenso wie seine extravaganten Westen und Krawatten, so etwas wie sein modisches Markenzeichen geworden. In Boston sagte man âHarry Hewittâ und meinte damit, was der Rest der Welt mit âBeau Brummellâ meinte.
Harrys Sekretär Carlisle, mit Brille und schütterem Haar, verkündete Nells Anliegen so pompös, als stünde er auf einer Theaterbühne, und präsentierte mit groÃer Geste den Umschlag, auf den Viola mit ihrer geliebten violetten Tinte âMit freundlicher Empfehlungâ geschrieben hatte. Harry schenkte dem Schreiben indes keine Beachtung. Seine Mundwinkel zuckten wissend, als er erst Nell, dann Brady und dann wieder Nell ansah. Zu spät erkannte Nell, dass es ein Fehler gewesen war, mit Begleitschutz bei ihm aufzutauchen. Hatte sie nicht vor langer Zeit gelernt, dass man gefährliche Männer nie seine Angst spüren lassen durfte? Aber solch hart erworbene Weisheiten vergaÃen sich
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