Dunkelheit soll dich umfangen: Thriller (German Edition)
der Nacht hatte Vanessa mit einer warmen Decke auf dem Sofa zugebracht und vergeblich versucht, die Kälte zu bannen, die ihr in die Knochen gefahren war.
Wer tat so etwas? Und warum? Um ihr Angst einzujagen? Das war ihm jedenfalls gelungen. Während der letzten zwei Tage hatte sie dauernd über die Schulter geschaut, in dunkle Ecken gespäht und gegen das ungute Gefühl angekämpft, dass ihr jemand übelwollte. Während sie ihre Businesskleidung gegen Jeans und Sweatshirt tauschte, fragte sie sich, ob sie womöglich überreagierte. Von Telefonanrufen ging schließlich keine unmittelbare Gefahr aus. Doch alle rationalen Erwägungen kamen nicht gegen die emotionale Reaktion an, die die Anrufe in ihr ausgelöst hatten.
Dann ging sie in die Küche, um zu backen, denn die immergleichen Handgriffe hatten etwas Tröstliches. Während sie die Zutaten für Bananen-Nuss-Brot bereitlegte, fragte sie sich, wer sie so sehr hasste, dass er sie absichtlich quälte.
Es musste jemand sein, der sie kannte, jemand, der über ihr Privatleben Bescheid wusste. Der Anrufer wusste genau, wie Jim gestorben war. Es konnte einfach kein Zufall sein, dass die Geräusche am Telefon so klangen, als würde jemand ertrinken.
Während sie die Backzutaten abwog und verrührte, versuchte Vanessa, die Gedanken an die makabren Anrufe beiseitezuschieben. Zum ersten Mal seit langer Zeit wünschte sie sich, eine gute Freundin zu haben. Sie hatte Jims Familie und ihre Arbeitskollegen, aber sie hatte keine wirklich gute Freundin.
Nach ihrer Heirat hatte sie sich in das Leben mit Jim gestürzt und die Beziehungen zu ihren Freunden vernachlässigt. Sie hatten das Haus renoviert, und dann war Johnny gekommen, und der Alltag wurde noch hektischer. Als endlich ein wenig Ruhe einkehrte, hatte Jim angefangen, sich zu verändern. Er wurde unberechenbar und verlangte ihre ständige Aufmerksamkeit, so dass ihr kein Raum für Freundschaften blieb.
Wie schön wäre es gewesen, jetzt mit einer Freundin über die anonymen Anrufe reden zu können. Ihr von Christian zu erzählen.
Es versetzte Vanessa einen Stich, als sie daran dachte, dass sie seit Samstagmorgen nichts von ihm gehört hatte. Ohne ihn fühlte sie sich leer, und das überraschte sie, denn ihr war nicht bewusst gewesen, wie sehr er sich schon in ihren Gedanken eingenistet hatte, wie sehr die Aufregung und die Vorfreude sie beschwingt hatten. Erst als er aus ihrem Leben verschwand, wurde ihr das klar.
Als Johnny aus der Schule kam, standen zwei Bananen-Nuss-Brote zum Abkühlen auf der Arbeitsfläche, und zwei weitere waren im Backofen. Johnny kam in die Küche gestürmt, die Wangen von der Winterluft gerötet, den Übermut eines Zehnjährigen in den Augen.
»Du siehst so fröhlich aus«, sagte Vanessa, als er seine Schultasche auf den Tisch warf.
»Billy Martin hatte im Bus Luftschlangenspray dabei. Er hat Mrs. Clinton damit angesprüht, und jetzt lässt sie ihn wahrscheinlich nie mehr mitfahren.«
Billy Martin war genauso alt wie Johnny, allerdings doppelt so groß und bekannt dafür, dass er die anderen Kinder dauernd tyrannisierte. Johnny grinste. »Das hättest du sehen müssen, Mom. Sie hatte die ganzen Haare voll mit roten Fäden, und dann wurde ihr Gesicht vom Schreien genauso rot.«
»Das war aber nicht nett von Billy.«
»Ich finde das gut, dass er das gemacht hat«, erwiderte Johnny. »Nicht, weil Mrs. Clinton sich geärgert hat, sondern weil Billy jetzt vielleicht nicht mehr im Bus mitfahren darf.« Er beäugte die frisch gebackenen Brote. »Sind die für uns, oder sind das Weihnachtsgeschenke?«
»Beides. Ich dachte, drei nehme ich mit ins Büro und eins behalten wir. Möchtest du vielleicht ein Stück und ein Glas Milch dazu?«
Er zog die Stirn in Falten. »Nee, lieber später. Ich muss erst noch was machen.« Er marschierte zur Tür, drehte sich jedoch noch einmal um, bevor er hinausging. »Nicht vergessen anzuklopfen, bevor du reinkommst!«
»Geht klar«, sagte Vanessa. Sie vermutete, dass er ein Geschenk für sie in Arbeit hatte, denn in den letzten Tagen tat er immer so geheimnisvoll, wenn er ins Dachgeschoss ging.
Am Freitagabend würden sie erfahren, wie Johnny bei dem Wettbewerb abgeschnitten hatte. Die Werke der jungen Künstler sollten öffentlich in einem Saal des Marriott-Hotels ausgestellt und die preisgekrönten Werke mit Bändern gekennzeichnet werden.
Sie wusste, dass Johnny enttäuscht sein würde, wenn er nicht gewann, und hatte versucht, ihn auf diese
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