Dunkelkammer: Frank Wallerts erster Fall (German Edition)
sehen. Sie wartete relativ lange und wollte sich gerade abwenden, als schließlich doch der Türöffner betätigt wurde. Ina trat in einen Hausflur, der recht ordentlich wirkte. Hinter der Eingangstür ging rechts eine Treppe in den Keller hinunter. Links befanden sich die Briefkästen, unter denen ein Kinderwagen – ein Buggy - geparkt war. Sowohl in den Keller als auch nach oben führten saubere Steintreppen. Wahrscheinlich wurde hier jeden Freitag geputzt, wie es die Hausordnung vorsah.
„Wer ist da?!“, erscholl eine energische, weibliche Stimme.
Ina hatte mittlerweile die erste Treppe bewältigt und stand der Ruferin jetzt gegenüber. Eine recht attraktive, etwa vierzigjährige Frau mit schwarzen Haaren und verhärtetem Gesichtsausdruck versperrte ihr den Weg. Ina musste nach oben schauen, denn die Frau stand drei Stufen über ihr. Ihr roter Morgenmantel war sauber, was aber nicht über die provozierende Unfreundlichkeit in ihrem Blick hinwegtäuschen konnte.
„Guten Morgen“, begann Ina mit ausgesuchter Höflichkeit. „Mein Name ist Ina Gehnen. Ich arbeite beim Jugendamt. Könnten wir uns vielleicht kurz unterhalten?“
„Jugendamt? Jetzt? Was ist los?“, erwiderte die Frau, eher verblüfft als unfreundlich, und als Ina nicht antwortete, schob sie hinterher: „Mein Mann und ich sind gerade aufgestanden!“.
„Ist Ihre Tochter auch da?“
„Steffie? Natürlich! Sie liegt noch im Bett.“
Frau Wibert war jetzt gänzlich verunsichert.
„Frau Wibert, wir müssen uns unterhalten. Jede Stunde, die wir warten, könnte verschwendete Zeit sein! Aber lassen Sie uns das bitte nicht im Hausflur tun!“
Ina hielt gespannt die Luft an.
„Na gut! Aber erwarten Sie bitte nicht die auf Hochglanz polierte Wohnung.“
Frau Wibert gab den Treppenabsatz frei und wies Ina mit einer einladenden Handbewegung den Weg in die Wohnung. Die Wohnung war nicht aufgeräumt, aber es war auf keinen Fall schmutzig oder gar chaotisch. So sah es wohl an einem Samstagmorgen in neunzig Prozent aller bundesdeutschen Wohnungen aus. Frau Wibert geleitete Ina in die Küche, in der ein relativ großer runder Tisch zum Frühstück gedeckt war – für zwei Personen. Ina nahm das zur Kenntnis und wunderte sich, aber sie sagte nichts. An dem Tisch standen vier gleiche wunderschöne Binsenstühle. Bei ihnen handelte es sich wohl um sehr gut erhaltene Antiquitäten. Das Eichenholz der Füße und Rückenlehnen war sehr dunkel.
„Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“, fragte Frau Wibert freundlich und wies Ina einen Stuhl zu.
„Gerne!“
Während sie Ina eine Tasse duftenden Kaffees vorsetzte, sprach Frau Wibert sie an.
„Sie müssen schon entschuldigen, aber wir sind um diese Zeit natürlich nicht auf Gäste eingestellt.“ Ihre Stimme wurde wieder laut und schneidend. „Wieso rückt uns an einem Samstagmorgen das Jugendamt auf die Pelle?“
Die ursprüngliche Unfreundlichkeit hatte wieder Besitz von ihr ergriffen. In diesem Augenblick betrat ein etwa mit der Frau gleichaltriger Mann in dunkelblauem Anzug die Küche. Er stutzte und konnte sein Erstaunen nicht verbergen. Ina stand auf, reichte ihm die Hand, die er mechanisch ergriff, und stellte sich vor.
„Da hat uns jemand das Jugendamt auf den Hals gehetzt!“, keifte Frau Wibert.
Der Mann blieb an der Stelle stehen, von der aus er Ina wahrgenommen hatte. Sein Gesichtsausdruck wechselte schlagartig.
„Dieser Lehrer, stimmt’s? Jede Wette, dass dieser Kirchhoff Sie aufgehetzt hat!“
Seine Stimme war beißend und seine Mimik hasserfüllt. Trotzdem setzte er sich auf seinen Frühstücksplatz. Er entfaltete eine Serviette und legte sie sich auf die Oberschenkel. Dabei ließ er Ina nicht aus den Augen.
„Frau und Herr Wibert“, versuchte sie, die Atmosphäre wieder in die Richtung zu lenken, wie sie vor dem Erscheinen des Mannes war. Inas Stimme war ruhig und freundlich.
„Wir sollten uns in Ruhe unterhalten. Ich bin nicht offiziell hier, sondern weil sich eine Menge Leute Sorgen wegen Ihrer Tochter machen.“
Frau Wibert und ihr Mann tauschten einen kurzen Blick und schauten dann – wie ferngesteuert – Ina an.
„Glauben Sie, wir können unsere Tochter nicht erziehen?“, fragte Herr Wibert mit zusammengekniffenen Augen. Seine Frau schenkte ihm einen Kaffee ein.
„Das hat niemand behauptet. Es kommt in den besten Familien vor, dass Kinder in dem Alter Sachen tun, von denen die Eltern nichts wissen. Das gehört zum Erwachsenwerden.“
„Und was sollen das für
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