Dunkelmond
vielleicht einem Dutzend Wintern ein solches Schicksal verdienen? Ein Kind, das darüber hinaus dem Mord an seiner Familie hatte zusehen müssen?
Das Massaker hatte zudem in einem Heiligtum stattgefunden. Es musste ein hoher Anlass gewesen sein, wenn Fürst Amadian und seine ganze Familie dort im Angesicht des Dunklen Mondes versammelt gewesen waren. In der Regel geschah das zu einer Weihe, auch wenn es nicht die Sanaras gewesen sein konnte. Sie war zu jung und nicht von ihrem Schöpfer gezeichnet.
Ihr Bruder. Der Schmied. Telarion wusste mit einem Mal fast sicher, dass es wohl seine Weihe gewesen war.
Telarion lief ein Schauder über den Rücken. Er schloss erneut die Augen.
Er begann, Sinans unbändigen Hass auf ihn und Tarind zu verstehen, und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass sein Zwilling sich mit der Rache am Fürsten von Guzar gegen das Leben und die Gebote der Schöpfergeister versündigt hatte.
Nichts, auch nicht der Tod Dajarams, des Königs und höchsten Heilers der Elben, konnte ein Blutbad in einem heiligen Raum, bei einer heiligen Handlung zu Ehren eines der Schöpfermonde rechtfertigen. Ein Blutbad vor den Augen des Dunklen Mondes. Dem Mond, der dem Goldenen immer ein Bruder gewesen war. Ein Zwilling, so wie Tarind sein, Telarions, Zwilling war.
Ich habe dem Schmied gesagt, es kümmere mich nicht, was er über mich denke. Dennoch bat er für sein Volk um ein Feuer und um Heilung für die Hure, der Tarind die Kraft nahm. Er war es, der sich nicht darum scherte, ob er sich vor mir demütigte, und den es nicht scherte, ob ich ihn verachten oder mit dem Tod bedrohen würde.
In Telarion erwachte Bewunderung für den Mut, den der Schmied aufgebracht hatte. Wahrscheinlich war wirklich er es gewesen, der Sanara den qasarag gebracht hatte; doch die Tochter des Siwanon hatte sich lieber selbst getötet als einen anderen.
Als Telarion an die Situation zurückdachte, kam ihm plötzlich die Idee, sie habe ihn nicht aus Hass angegriffen, sondern ausTrauer und Mutlosigkeit, weil er ihren Tod vereitelt hatte. Indem er sie heilte und ins Leben zurückrief, hatte er ihr auch die letzte Ehre genommen, die sie zu haben glaubte.
Reue über den gewaltsamen Tod des Schmieds machte sich in ihm breit.
Das getriebene Gold an seiner Stirn wurde heiß, doch Telarion löste sich nicht von Vanars Altar. Angesichts dessen, was die Kinder des Siwanon ihm vorgeworfen hatten, und des Gedankens, sie könnten recht haben, fühlte er die Schuld wie ein Gewicht, das sich auf seine Seele legte.
Wieder stand die Tochter des Siwanon in ihrer stolzen Schönheit vor seinem inneren Auge.
Man sagt gemeinhin, der Zwilling des Königs sei von großer Weisheit. Doch in dem Mann, der hier vor mir steht, sehe ich nur wenig davon. Ich kann nur Dummheit erkennen, wenn Ihr nicht sehen wollt, dass Ihr Eure Treue dem Falschen schenkt!
Niemand hatte Telarion Norandar je zuvor Dummheit oder Begriffsstutzigkeit zum Vorwurf gemacht. Allein der Gedanke, er, ein Shisan der zweiten Ordnung, ein Heiler, wäre nicht in der Lage zu erkennen, was falsch und was richtig war, hatte Telarion als Beleidigung empfunden. Dass ein Weib, eine Schankdirne, dies aussprach, wäre noch vor wenigen Tagen eine unaussprechliche Schande gewesen, die er kurzerhand mit dem Schwert beantwortet hätte.
Doch nun musste er sich selbst gegenüber eingestehen, dass die Adlige, die man in die Gosse geworfen hatte und die ein elendes Dasein als Schankdirne, als Sklavin und nun als Verfolgte führte, in allem recht behalten hatte.
Fragt Euch, ob der Tod des Königs nicht vielleicht dem nutzen konnte, der jetzt die Krone trägt!
So oder so ähnlich waren ihre Worte gewesen. Mit einem Ruck erhob sich Telarion.
Nichts erschien ihm unwahrscheinlicher, als dass sein Bruder, sein Zwilling, mit dem er den Mutterschoß geteilt hatte, den Vater getötet hatte. Doch die Tatsachen, die die Kinder des Siwanon vorgetragen hatten, fügten sich zu einer Wahrheit zusammen, die stärker war als die Treue zu seinem Bruder.
Er verneigte sich noch einmal ehrerbietig und mit ausgebreiteten Armen vor dem goldenen Ring auf dem Altar, der das Symbol des Vanar war, und wollte sein Zelt verlassen, um das ethandin des Königs aufzusuchen.
Zuerst sah er den Schatten nicht, der sich links hinter dem Tisch befand. Ein Rascheln ließ ihn herumfahren, als er das Tuch zurückschlagen wollte, das den Eingang des Zelts verdeckte.
Er sah genauer hin. Aus der Dämmerung schälte sich eine Gestalt, die
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