Dunkelmond
Bandothi.
Sanara machte Hitze wenig aus, doch erst jetzt, da die Weiße Sonne langsam den Himmel verließ, wagte sie es, in dem Lichtfleck stehen zu bleiben, den eine Lücke in den Sonnensegeln schuf.
Sie schloss die Augen und hob das Gesicht der Roten Sonne entgegen. Der Lärm und die Menschen ringsum entrückten für einen Moment weitestgehend ihrer Wahrnehmung. Ihr Tag war schon anstrengend genug gewesen, doch das Abendgeschäft der Taverne stand noch bevor. Wieder würden die Menschen sich in Lurys Schankraum versammeln, Ondras Suppe essen, vergorene Stutenmilch trinken und darüber spekulieren, ob Tarind, der Herrscher der Elben, und sein Zwillingsbruder das Siegel der Welt in ihren Besitz gebracht hatten und sich die Jahreszeiten deshalb änderten. Die Winter wurden kälter und länger, sodass die Wintersaat erfror. Die Sommer hingegen wurden drückender und heißer und ließen die Ernte auf den Feldern verdorren. Der Lithon führte zu viel Wasser oder zu wenig. Es gab keine Harmonie mehr in den jahreszeitlichen Gegebenheiten. Vielmehr schien es, als habe Ys die Welt ein weiteres Mal verlassen.
Sanara nagte an ihrer Unterlippe und verdrängte diese Gedanken. Sie wollte sich ganz dem Streicheln der Roten Sonne auf ihren Wangen hingeben, den Berührungen der trockenen Hitze…
Doch es war ihr nicht vergönnt. Abrupt kehrte sie in die muffige Schwüle der Stadt und den Lärm der Menschen, die sie bevölkerten, zurück. Sie spürte einen Stoß an der Schulter, und der weite Ärmel ihrer Bluse blieb an etwas hängen. »Hey! Ist das zu glauben!«, rief eine tiefe Bassstimme. »Steht hier mitten auf der Straße und träumt!«
Sanara musterte den Träger, der sie angerempelt hatte, und befreite ihre Bluse von dem groben Holz des Fasses, dass er auf der Schulter trug, bevor das dünne Leinen reißen konnte.
»Pass selbst besser auf, wo du hinläufst!«, schimpfte sie dabei und versuchte, den Korb in ihrem Arm so zu balancieren, dass Kräuter und Gemüse, die sie darin verstaut hatte, nicht herausfielen.
Der Mann brummelte etwas Unverständliches und verschwand in der Menge.
Sanara holte tief Luft und sah sich nach ihrem Begleiter um, konnte ihn aber nicht mehr entdecken.
Sie seufzte ungehalten. Sie hatten keine Zeit, sich ablenken zu lassen. Ondra wartete auf das Gemüse für das Abendgeschäft, das Sanara und der Wirtssohn in der Vorstadt von Bandothi bei Bauern erworben hatten. Doch obwohl Mehtid schon vierzehn Sommer zählte, war er in vielerlei Hinsicht noch ein Kind.
Ärgerlich wandte Sanara sich um und ging festen Schrittes den Weg zurück, den sie gekommen war. Bestimmt hielt Mehtid vor den Auslagen eines der Weber in dieser Gasse Maulaffen feil. Die bunten und feinen Stoffe, die hier gewebt wurden, sprachen seine jugendliche Eitelkeit an, auch wenn weder er selbst noch seine Eltern sich auch nur einen Fingerbreit der Brokate und Tücher hätten leisten können.
Doch Mehtid war nirgends zu sehen, nicht einmal vor der Weber-Werkstatt mit den wunderbaren vielfarbigen Seidenstoffen aus Undori. Sanara sah sich ein wenig ratlos um. Wo mochte der Halbwüchsige bloß stecken?
Sie legte sich in Gedanken eine geharnischte Schimpftirade zurecht, doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit von Rufen abgelenkt. Schreie ertönten, dazu der Klang dumpfer Schläge.
Weiter hinten in der Gasse hatte sich vor einer Werkstatt eine Menschentraube gebildet.
Stirnrunzelnd lief Sanara dem Tumult entgegen. Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht Mehtid dort fand.
Als sie ankam, waren die Menschen zurückgewichen und standen in weitem Halbkreis um eine der Hausfassaden herum. Unwillkürlich hielt auch Sanara inne, als sie erkannte, dass sich die Leute von der Tür einer Weber-Werkstatt zurückgezogen hatten.
Aus dem Inneren wehte ein eisiger Luftzug, der die Wärme, die sie vor wenigen Minuten so freudig in sich aufgesogen hatte, fast vollständig vertrieb.
Elben.
Am liebsten hätte Sanara sich umgedreht und wäre geflohen. Sie hasste das ältere Volk, vor allem den König und seinen Zwilling, und ging ihm aus dem Weg, wo sie nur konnte. Alles hatten die Kinder des Vanar ihr genommen.
Aus der Werkstatt des Webers ertönten jetzt wieder Rufe, Befehle wurden gebellt. Hektisch sah Sanara sich nach dem Sohn der Wirtsleute um. Sie wollte nicht ohne ihn gehen.
Er war nicht zu sehen. Und doch war sie sich sicher, dass er hier irgendwo war. Nervös wich sie ein paar Schritte zurück.
Dann zerrten Soldaten der Palastwache einen Mann
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