Dunkelmond
Überrascht glitt sein Finger an ihre Halsbeuge. Sein Herz übersprang einen Takt.
Der Puls war schwach, aber sie lebte!
Rasch erhob er sich und wandte sich wieder Tarind und seinem Bruder zu.
»Es mag sein, dass Ihr für möglich haltet, ich würde das Volk des einen Mondes in Gefahr bringen, um dem anderen Schmerz zuzufügen, aber ich könnte es nicht«, unterbrach er die Worte des Königs, die dieser gerade an seinen Berater richtete. »Und das werde ich Euch, wie Ihr vorschlagt, morgen früh zur Stunde der Weißen Sonne unter Beweis stellen. Auch wenn diese Zeit nicht der Achtung entspricht, die ich dem Schöpfer meines Volks entgegenbringen sollte.«
Er warf den drei Elben einen zornigen Blick zu, dann ging er in die Hocke, um Berennis auf seine Arme zu heben und sie ins Lager der Menschen zu tragen.
Tarind fuhr herum. »Wie kannst du es …«
Doch Telarion schob ihn beiseite. »Du magst denken, was du willst, Schmied, doch deinem Schöpfer gefiel es, dich und die Deinen in unsere Dienste zu stellen«, sagte der Heermeister scharf. »Es war die Erde selbst, die sich gegen den Khariten stellte, das weißt du so gut wie ich. Bist du morgen also nicht pünktlich zur Stelle, um diesen Beweis abzuliefern und dich unserem Urteil zu unterwerfen, wird das Folgen haben. Auch für diese … Frau«, fügte er mit einem verächtlichen Blick auf die immer noch reglose Berennis hinzu.
Sinan gab keine Antwort. Die Worte des Heermeisters verdienten keine. Er wandte sich um und ging mit der Frau auf dem Arm fort.
Den anerkennenden Blick, den Ronan ihm zuwarf, bevor er ihm folgte, bemerkte er nicht.
Sinan hatte Berennis in der Obhut der Frauen seines Lagers zurückgelassen.
Als seine Werkstatt endlich wieder einem Ort glich, an dem ein Schmied vernünftig arbeiten konnte, berührte der Silberne Mond bereits die Wipfel der Bäume am anderen Ende des Waldsees. Auch die Elben hatten die Nacht genutzt, ihr Lager neu zu errichten und die Schäden, die das Erdbeben verursacht hatte, so weit wie möglich zu beseitigen. Mehr als einmal war auch der Heermeister an der Schmiede vorbeigekommen. Er hatte sich jedoch immer nur kurz umgesehen und war dann wieder auf das große, offene Zelt zugegangen, in dem man die Verletzten und Kranken untergebracht hatte.
Man hatte es am südlichen Waldrand aufgebaut, wo es den vielen verwundeten Elben den meisten Schatten bot. Der Heermeister hatte sich zu Sinans Verwunderung nicht darauf beschränkt, sich in das ethandin seines Bruders zurückzuziehen oder Befehle auszuteilen. Er hatte sich keine Ruhepause gegönntund verbrachte die Zeit, die er nicht in Sinans Schmiede weilte, dort.
»Was macht er da ständig?«, fragte Hedruf nach einem der kurzen Besuche des Heerführers und ließ die Schaufel, mit der er die Asche aus der Esse kehrte, sinken.
Sinan zurrte das Rindenseil fest, mit dem er die Zweige zu einem Windschutz zusammengebunden hatte, der das Essenfeuer vor Zugluft schützen würde. Er sah nur kurz auf, um Hedrufs Blick zu folgen. Seine Gedanken waren bei Berennis, nicht hier im Heerlager der Elben.
Sein Gehilfe hingegen, den er mit knapper Not aus Kharisar gerettet hatte, stand offenen Mundes da, hatte die Schaufel sinken lassen und versuchte, im blass silbernen Mondlicht zu erkennen, was der Heermeister bei den Verwundeten trieb.
»Er setzt sich neben die Verwundeten und fasst sie an«, murmelte Hedruf. »Aber dann redet er nicht mit ihnen. Das ist doch seltsam!«
»Er ist der Heerführer«, sagte Sinan schließlich. »Er tut, was er tun muss – er kümmert sich um die Seinen.«
»Aber das wäre doch eigentlich Sache eines Königs«, widersprach Hedruf stirnrunzelnd und schaute im Licht der Sterne genauer hin. »Die Elben haben Tarind zu ihrem Anführer gemacht. Warum nimmt der Heermeister es ihm ab?«
Sinan warf einen Blick in das halb offene Zelt am Waldrand, das neben der Schmiede stand. »Weißt du das nicht? Der Heermeister ist ein Heiler«, sagte er dann. »Ein Shisan des Lebens. Elben leben länger als wir, weil der Goldene Mond ihnen Macht über das Leben gab. Der Zwilling des Königs ist vom Goldmond besonders reich mit dieser Gabe beschenkt worden. Es heißt, dass Telarion Norandars Macht so tief in die Seelen zu greifen vermag wie die der größten Seelenherren vom Volk des Akusu.«
Hedruf wandte sich zu Sinan. »Wie passt das zusammen?«, fragte er. »Wieso ist er dann Heermeister und überzieht die Welt mit Krieg und Tod?«
Sinan antwortete nicht. Er zerrte
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