Dunkelmond
aus violettem Porphyr bestand, kaum wahr. Ein Großteil der Mauern bestand auch hier aus feinem Maßwerk, Prachtstückeder Steinmetzkunst. Die Muster erzählten von der Schöpfung der Welt, die aus einem Streit der beiden Schöpfergeister entstanden war: Ys, die den ewigen Frieden und die Harmonie wünschte, das Wachstum und das Gedeihen; und Syth, dem Zerstörer, dem Chaos, das immer verändern und immer Neues erschaffen wollte. Sie erzählten davon, wie sehr sich beide geliebt hatten, so sehr, dass sie schließlich die Herrschaft über ihre Welt an ihre Zwillingskinder abgegeben hatten, um nicht länger streiten zu müssen: den Goldenen und den Dunklen Mond.
Und sie erzählten davon, wie Ys sich einst dazu überwunden hatte, ihren Geliebten in die Leere jenseits der Welt zu bannen, auf dass ihrer Schöpfung fortan Frieden und Harmonie beschieden sei. Syth war in die Leere gegangen, doch vom ersten Tage an, so sagten die Weisen, habe er seine Wiederkehr vorbereitet.
Die Gestalt kannte diese Geschichten und dachte nicht über die bekannten Bilder und Darstellungen nach, die, von Ys selbst beschienen, die Muster des Maßwerks als Schattenspiel auf den Marmorboden warfen.
Erst vor dem Altar machte der Ankömmling Halt, fiel auf die Knie und breitete die Arme vor dem Sinnbild des Syth aus, das dort stand: ein großer, in sich verknoteter Torus ohne Anfang und Ende.
»Du bist vor das Angesicht des Syth getreten, des Schöpfers der Veränderung, der Zerstörung des Althergebrachten und des Chaos, das alles, was einmal begonnen hat, beendet.«
Die Stimme hallte im Tempelraum nach. Für einen Herzschlag klang sie in den Ohren des Besuchers, als käme sie aus der Leere jenseits dieser Welt, doch dann mischten sich Tritte von Ledersohlen in die Worte. Der Sprecher blieb direkt vor der knienden Gestalt stehen.
»Das bin ich«, sagte die Gestalt ehrfürchtig.
»Zu welchem Zweck?«
»Ihr wisst, ich diene mit all meinen Gaben keinem anderen, als dem Schöpfer der Veränderung. Ich will der Schaffung des ewigNeuen dienen und das meinige dazu beitragen, das wisst Ihr. Zu lange schon ist die Welt in dem erstarrt, was ist. Ich fürchte mich davor. Das darf nicht so bleiben.«
Der Priester verschränkte die Arme hinter dem Rücken und ging auf und ab. Schließlich blieb er vor der Gestalt stehen, deren Gesicht im düsteren Licht unter der Kapuze nicht zu erkennen war.
Dennoch wusste er genau, wer sich darunter verbarg.
»Du bist Syth treu ergeben, das weiß ich«, sagte er schließlich. »Doch was treibt dich so spät in der Nacht und ausgerechnet in der Stunde seiner größten Gegnerin hierher?«
Unter der Kapuze war ein tiefer Atemzug zu hören.
»Die Jahreszeiten verschieben sich, Frühjahr ist Sommer, die Wasser des Lithon überschwemmen Barat und reißen Land mit sich fort. Die Erde bebt und verändert den Lauf der Flüsse. Der Schöpfergeist der Veränderung will zurück auf die Welt.«
Der Priester legte den Kopf auf die Seite.
»Das ist wahr. Und doch weißt du, dass er sich nur aus der Jenseitigen Leere wird befreien können, wenn das Siegel gefunden und wieder zusammengefügt wird. Das Siegel, mit dem Ys ihn einst, nach seinem Fortgang, bannte.«
»Die Weisen sind seit Äonen der Ansicht, dass Ys das Siegel in den Jenseitigen Nebeln verankerte und dass es deshalb nur von einem Seelenherrn von dort geholt werden kann.«
Der Priester sah seinen Gast nachdenklich an.
»Das ist wahr«, sagte er. »Die Weisen sagen auch, dass nicht irgendein Seelenherr das Siegel berühren kann. Es muss einer sein, in dem die Gabe, die Akusu einst dem ersten Menschen schenkte, den er aus Lehm formte und im Feuer brannte, in ihrer reinsten Form zu finden ist.«
Die Gestalt nickte so heftig, dass ihre Kapuze fast vom Kopf rutschte. Sie sah dem Priester ins Gesicht.
»Man sagt, dass das Haus Amadian von diesem Menschen abstammt«, erklärte der Besucher. »Und dass besagte Gabe in Siwanon Amadian so rein und unverfälscht war wie in niemandem sonst.«
Der Priester schnaubte. »Das sagt man nicht nur, es war in der Tat so. Du weißt, ich selbst habe einmal den Fürsten von Guzar dabei gesehen, wie er eine Seele in die Jenseitigen Ebenen geleitete. Es gab in unserem Zeitalter niemanden, dessen Magie stärker war als die seine. Und doch weißt du so gut wie ich, dass diese Geschichte für immer zur Legende wurde, nur noch von den Musikanten in den Tavernen besungen, als Tarind ihn tötete.«
»Er tat es, weil er glaubte, der
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