Dunkelziffer
werden? Werden wir dann so viel Kinderpornografie finden, dass die Geschichte sexueller Übergriffe umgeschrieben werden muss?«
»Beeindruckende Anklage. Aber für eine hoffnungslose Sache.«
Sara Svenhagen hatte fast vergessen, wie sich die wirklich routinierten Verdächtigen im Verhör verhalten. Carl-Olof Strandberg war einmal Kinderarzt und Kinderpsychiater gewesen. Er hatte mit den schwersten Fällen an den Schulen Stockholms gearbeitet und konsequent das Vertrauen der Kinder missbraucht. Das war über Jahre so gegangen und hatte seinen Höhepunkt in der Entführung dreier Jungen aus verschiedenen Schulen in der Stockholmer Innenstadt gehabt. Zwei starben, wurden aber nie gefunden, und einer war nach wie vor nicht ansprechbar. Strandberg hatte ihn allem Anschein nach mit seinem gesamten beruflichen Können in die totale Blockade manipuliert. Seine Kälte in dieser Verhörsituation bewegte sich um den Nullpunkt. Es gab nicht einen Spalt in der Mauer.
Trotzdem musste Sara sich ihren Kopf weiter an dieser Mauer blutig stoßen. Um Emily Flodbergs willen. Sie fuhr fort: »Sie wussten, dass es auf Gammgärd von Vierzehnjährigen wimmelte? Genau das richtige Alter für Sie und Larsson. Sie haben darüber sicher mit ihm diskutiert? Ein bisschen gelacht und gescherzt über, sagen wir, Leckerlis, gemischte Häppchen? Ich nehme die Jungs und du die Mädchen?«
»Nein.«
»Wie oft trägt Sten Larsson einen militärgrünen Fleece-pulli?«
»Sie wollen es so aussehen lassen, dass wir viel zusammen sind. Das ist nicht der Fall. Keiner von uns will zusammen mit dem anderen gesehen werden. Das würde falsche Signale aussenden. Wir angeln einige Male im Jahr zusammen. Das ist unser ganzer Umgang.«
»Außer über das Internet.«
»Das sind leere Anschuldigungen.«
»Wie oft trägt er also einen Fleecepulli?«
»Immer«, sagte Carl-Olof Strandberg. »Er ist ein richtiger Waldschrat.«
»Sten Larsson war im Wald, als Emily Flodberg verschwand. Jetzt sind beide verschwunden. Larsson hat sie sich geschnappt. Wo sind sie?«
»Sie vergessen meine Berufserfahrung«, sagte Strandberg und fixierte Svenhagen. »Ist man einmal als Pädophiler abgestempelt, wird die ganze übrige Existenz ausgelöscht. Trotzdem möchte ich auf meine Berufserfahrung verweisen: Ich glaube nicht, dass Sten jemanden entführt hat.«
»Warum nicht?«
»Er kann es nicht. Seine Psyche ist nicht so.« »Im Unterschied zu Ihrer?«
»Zum Beispiel im Unterschied zu meiner, ja. Und Ihrer, Frau Svenhagen.«
»Aber in seiner Vergangenheit hat es tatsächlich Übergriffe gegeben. Vergewaltigungen.«
»Impulsive Aktionen«, sagte Strandberg und hob die Hände. »Die Begierde überkommt ihn, dann muss er agieren. Er ist kein Mann der Planung. Es ist möglich, dass er im Wald war und von Begehren getrieben war, es ist sogar möglich, dass er ein Mädchen überfallen hat - das weiß ich nicht - , aber dann hätten Sie sie gefunden. Tot oder lebendig.«
»Angenommen, er vergewaltigt sie im Wald«, fuhr Sara fort. »Warum sollte er sie danach nicht mitnehmen? Tot oder lebendig?«
»Das entzieht sich meiner Einschätzung.«
Es war interessant zu sehen, wie Carl-Olof Strandberg sich verwandelte. Er war nicht mehr das unschuldig angeklagte Opfer eines Komplotts, nicht mehr der abweisende alte Zyniker. Er wurde wegen seiner Berufskenntnisse gehört, wie in der guten alten Zeit. Und vielleicht ließ sich über diesen Berufsstolz ein Weg durch die Mauer finden.
»Und wie sieht Ihre professionelle Einschätzung aus?«, fragte Sara mit aller Milde.
»Sten Larsson gehört zu denen, die sich schämen«, sagte Strandberg, die Stirn in professionelle Falten gelegt. »Die sich hinterher schämen. Die so schnell wie möglich nur weg und das Ganze vergessen wollen. Sie löschen alle Spuren des Ereignisses aus ihrem Bewusstsein. Sie schleppen kein Opfer mit sich, das sie daran erinnert. Schnell hinein, schnell wieder raus. Als wäre es nie geschehen. Und deshalb brauchen sie immer mehr und mehr.«
»Sie reden, als wäre er immer noch ein aktiver Vergewaltiger«, sagte Sara Svenhagen. »Aber es ist fast zwanzig Jahre her, seit er sich der zweifachen Vergewaltigung an zwei Teenagern aus der Gegend schuldig gemacht hat. Er hat fünf Jahre im Gefängnis gesessen. Sie scheinen sehr viel mehr über seine jetzigen Aktivitäten zu wissen als ich.«
»Er war unschuldig«, brummte Strandberg. »Genau wie ich.«
»Ich frage mich aber, ob Sie uns nicht gerade eine Menge erzählt
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