Dunkelziffer
die Wahrheit herauszufinden. Genau darauf waren seine gesammelten Energien ausgerichtet. Der Übergang zum Posten des Leiters der Abteilung für Interne Ermittlungen hatte ein unvermeidliches Moment von Objektivität mit sich gebracht. Er musste seine Wahrheitserforschung mit bedeutend größerer Neutralität durchführen als früher. Als in diesem Augenblick Bengt Äkesson ins Zimmer trat und das morgendliche Bild aus dem Kronobergspark wachrief, fragte sich Paul Hjelm, was die Objektivierung seiner gesammelten Energien eigentlich mit ihm machte.
War es nicht gleichbedeutend mit sterben?
Er dachte an Kerstin Holm. Er dachte an all die gemeinsame Energie, die sie im Lauf der Jahre produziert hatten. War es nicht ganz ungewöhnlich, dass ein Mann und eine Frau so nachhaltig in die gleiche Richtung strebten? Wirklich ungefähr gleich dachten und fühlten? Gerade im Moment spürte er zum Beispiel, dass sie an ihn dachte; in diesem Gedanken lag ein starkes Vertrauen. Aber dieses Vertrauen verlangte zugleich, dass er seine Arbeit machte, dass er nicht pfuschte und das Problem unter den Teppich kehrte.
Das Problem hieß Bengt Äkesson und sah nicht so aus, als wollte es sich unter den Teppich kehren lassen. Der klarblaue Blick war zielbewusst in Paul Hjelms gerichtet. Hjelm betrachtete diesen Blick prüfend - das brachte ihn in der Regel recht weit. Aber in diesem Fall war er gar nicht sicher, wie die Wahrheit aussah. Richtig sicher war er sich nur in einem einzigen Punkt, nämlich dem, dass es ihm nicht gelingen würde, hundertprozentig objektiv zu sein.
Sie blieben eine ganze Weile so stehen - ein Geist namens Kerstin Holm musste sich einmischen, damit Paul Hjelm eine kleine Geste vollführte und Bengt Äkesson sich setzte.
»Nun?«, sagte Hjelm. »Hast du noch einmal darüber nachgedacht, was gewesen ist?«
»Natürlich habe ich das«, sagte Äkesson und verstummte. Der Blick war noch da und grub sich in Hjelms Inneres. Es war, als träte man in einen blauen Bannkreis ein.
»Was hast du vor?«, fragte Paul Hjelm und hielt dem Blick stand. »Du hast etwas auf der Zunge.«
»Ich versuche mir ein Bild davon zu machen, wer du bist«, sagte Äkesson.
»Hat Kerstin das nicht erzählt?«
Äkesson blieb stumm. Der Bannkreis verschwand. Erlosch.
War das wirklich nötig?, dachte Paul Hjelm. Hätte ich nicht, und wenn auch nur aus rein taktischen Gründen, damit hinterm Berg halten sollen? Nein, dachte er dann. Nein, die Wahrheit verlangt es. Die Wahrheit verlangt, dass die Karten auf den Tisch kommen. Von allen Beteiligten.
»Das hätte ich mir denken sollen«, murmelte Äkesson kleinlaut. »Vor Paul Hjelm kann man nichts verbergen.«
Doch, dachte Paul Hjelm traurig. Der Sinn des Lebens ist ein tief verborgenes Geheimnis. Aber wer ihn geheim hält, ist ein noch tiefer verborgenes Geheimnis. »Gut, dass du es jetzt eingesehen hast«, sagte er ruhig.
»Kerstin vertraut dir«, sagte Äkesson, den Blick auf einen Punkt knapp unterhalb der Schreibtischplatte gerichtet. »Ich würde sagen, dass sie dir blind vertraut.«
»Was hast du denn ergründen wollen, bevor ich deine Konzentration gestört habe?«
»Ob sie im Jetzt lebt oder in der Vergangenheit. Ob du dich nicht inzwischen auch in einen von diesen Beamten verwandelt hast, bei denen die Objektivität als Schutzwall gegen das Leben funktioniert.«
Es gibt keine originellen Gedanken mehr, dachte Paul Hjelm. Alle denkbaren Gedanken schweben über uns, und wenn wir in seltenen Augenblick hochzuspringen und einen davon zu fangen vermögen, hat jemand anders das auch schon getan. Die Originalität ist unsere lächerlichste Illusion. Direkt nach der Objektivität. »Und warum wolltest du das ergründen?«, fragte er.
»Weil meine Zukunft davon abhängt«, sagte Äkesson.
»Inwiefern?«
»Wirst du es schaffen, dir mit dieser Geschichte die Hände schmutzig zu machen? Oder leitest du sie einfach nach einer summarischen Durchsicht ans Gericht weiter?«
»Ist sie so schmutzig?«, fragte Paul Hjelm.
Äkesson ließ von Neuem seinen blauen Bannkreis aufleuchten. Und für einen kurzen Augenblick fand Paul, dass er verstehen konnte, was Kerstin an ihm gesehen und was sie für ihn eingenommen hatte. In dem Augenblick beschloss er, sich die Hände schmutzig zu machen.
Aber er musste sich eingestehen, dass er das wahrscheinlich schon getan hatte, als die Phrase summarische Durchsicht sein Ohr erreicht hatte...
»Allerdings nicht physisch«, sagte Äkesson. »Das Schmutzige
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