Dunkle Beruehrung
»Guten Tag, Ms Bellamy.«
»Hallo, Mr Lawson.« Jessa erwiderte sein Lächeln und war erleichtert, dass er ihr nicht die Rechte geben wollte, wie es unter Geschäftsleuten eigentlich üblich war. Sie hatte die Handschuhe ausgezogen, die sie sonst immer in der Öffentlichkeit trug: Zwar war der September kühl, aber nicht so kühl, um beim Essen Lederhandschuhe zu rechtfertigen.
Seine Berührung zu vermeiden, war geschäftsnotwendig. Jessa hatte mehrmals überlegt, ihre Begabung nicht nur auf diejenigen anzuwenden, die sie zu überprüfen hatte, sondern auch auf mögliche Auftraggeber, war aber stets zu der Ansicht gekommen, hier eine Grenze ziehen zu müssen. Würde sie in die Abgründe jeder Seele schauen, dann würde auch sie – das war ihr klar – eines Tages erwägen, das Dach der Bank of America aufzusuchen.
Beim Hinsetzen sah sie, dass er bereits einen Cocktail bestellt und beinahe ausgetrunken hatte. Ob die Batterie ihrer Armbanduhr leer war? »Ich hoffe, Sie warten noch nicht lange.«
»Aber nein. Mein letzter Termin ist ganz kurzfristig ausgefallen – darum bin ich etwas früh gekommen.« Er winkte einem Kellner, und der reichte Jessa die Speisekarte. Lawson bestellte ein Steakgericht als Vorspeise und fragte: »Was trinken Sie?«
Jessa brauchte einen klaren Kopf. »Wasser, bitte.«
»Es gibt hier einen exzellenten Weinkeller und zufällig auch meinen liebsten Chardonnay«, bemerkte Lawson. »Der schmeckt Ihnen bestimmt.« Er orderte eine Flasche davon.
So sanft Lawson ihren Wunsch auch ignoriert hatte: Jessa war es nicht gewohnt, so behandelt zu werden, doch ihr waren in Unternehmen genug Platzhirsche begegnet, und ihr war klar, dass es sich hier um eine bewusste Demonstration männlicher Dominanz handelte. Gut möglich, dass Lawson seines Körpers wegen von Frauen bewundert werden wollte – wichtiger aber war ihm, sie herumzukommandieren.
»Für mich nur ein kleines Glas«, sagte sie zum Kellner, staunte über dessen angespannte Miene und bemerkte nun auch die Schweißflecken unter den Achseln seines ansonsten tadellosen weißen Hemds. »Und dazu Jakobsmuscheln mit Endiviensalat und Zitronen-Kapern-Vinaigrette.«
»Sehr wohl, Ma’am.« Der Ober eilte davon.
»Ich hoffe, der hat nichts Ansteckendes«, bemerkte Lawson, sah dem Kellner nach, bis er durch die Schwingtür in der Küche verschwunden war, und wandte sich dann an Jessa. »Verzeihen Sie – der Service hier ist eigentlich tadellos.«
Sie lächelte. »Jeder hat bei der Arbeit mal einen schlechten Tag.«
»Nicht bei GenHance. Jonah Genaro, unser Chef, ist beim Personal sehr wählerisch. Er will nur die Besten ihres Fachs.« Lawson lehnte sich zurück. »Reden wir also darüber, wie Phoenix dafür sorgen kann, dass er sie bekommt.«
Matthias kurvte in den Straßen rings um das französische Restaurant herum und sah dabei immer wieder auf die Uhr am Armaturenbrett. Um ein Uhr vierzehn schob er den Rucksack unter seinen Sitz, bog um die Ecke und nahm die rechte Fahrspur. Er hatte so stark beschleunigt, dass die Reifen quietschten, als er hinter dem stirnrunzelnden Parkwächter einscherte und anhielt. Bei laufendem Motor sprang er aus dem Wagen und verriegelte die Tür mit der Fernbedienung seines Ersatzschlüssels.
»Sir.« Der Parkwächter eilte zu ihm. »Tut mir leid, aber Sie dürfen hier nicht stehen.«
»Mein Chef ist hier, um seiner Freundin einen Antrag zu machen. Ich sollte dabei fotografieren, aber der Verkehr hat mich aufgehalten. Wenn ich nicht sofort reingehe, werde ich gefeuert.« Er gab dem Wächter seine Visitenkarte. »Dauert nur zwei Minuten, ich schwör’s, dann bin ich wieder weg.«
Es donnerte. Eine dunkle Wolkenfront rückte rasch über ihnen heran, verhüllte die Sonne und tauchte alles in plötzliches Halblicht.
Der Junge hob kurz den Kopf und blickte finster drein. »Es hieß, es bleibt den ganzen Tag sonnig.« Er sah flüchtig auf Matthias’ Visitenkarte und gab sie ihm zurück. »Eine Minute können Sie den Wagen schon hier stehen lassen, denke ich. Aber kommen Sie rasch wieder, sonst ruft mein Chef den Abschleppdienst.«
»Danke.« Matthias ging raschen Schritts in das Restaurant.
Er hatte beschlossen, Drews Vorschlag, sich die Frau zu schnappen und mit ihr zu türmen, ein wenig zu verändern, um kein Aufsehen zu erregen. Statt den verzweifelten Gatten zu spielen, der einer verletzten Frau zu Hilfe kam, war er nun ein verspäteter Fotograf, der seinen Job zu retten versuchte. Kaum sah er im Vorsaal
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