Dunkle Ernte
galt aber als Spezialist für solche Fälle. Er war mit Vollgas binnen einer halben Stunde von London nach Cambridge gerast und auf dem Weg vermutlich mehr als einmal geblitzt worden. Die Verwaltung würde wahrscheinlich eine Woche lang mit dem Schriftverkehr beschäftigt sein. Sir Clive sah noch einmal auf die Uhr und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. War er zu nachsichtig, wenn er erst den Computer der jungen Frau überprüfen ließ, ehe er sich entschied, wie er vorgehen würde? Wurde er auf seine alten Tage weichherzig? Hätte er sie einfach gleich ausschalten lassen sollen? Sein Verstand sagte ihm, dass das das Richtige wäre, doch sein Herz zögerte. Er brauchte einen handfesten Beweis, nur einfach ein intuitives Gefühl reichte ihm nicht. Vielleicht trübte es sein Urteilsvermögen, dass er selbst eine Tochter in ihrem Alter hatte, die in Durham studierte.
72
Amanda radelte durch die schmale Straße, die King Street und Jesus Lane verband, als in ihrer Jeans das Handy summte. Ohne anzuhalten, fummelte sie es mühsam aus der engen Tasche. Wahrscheinlich wollten die vom Krankenhaus anfragen, ob sie noch eine Schicht anhängen könnte.
»Hallo, hier Dr. Marshall.«
»Amanda?« Jacks Stimme klang dünn und verrauscht, eine schlechte Verbindung, aber es war Jacks Stimme. Sie fiel fast vom Rad.
»Jack! Mein Gott, ist das schön, von dir zu hören. Wo steckst du?« Sie hielt an und stieg vom Sattel, das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt.
»In Kampala, Uganda. Hör zu, ich kann nicht lange reden. Ich fliege bald zurück. Das hoffe ich jedenfalls.«
»Das ist wunderbar. Du kannst mir alle deine Abenteuer erzählen, wenn du zurück bist.«
Unheilvolle Stille folgte. Das konnte nur bedeuten, dass die Abenteuer noch nicht zu Ende waren.
»Mands, pass auf, du musst dich immer in der Nähe von anderen Menschen aufhalten, zumindest bis ich wieder da bin. Sieh zu, dass du nie allein unterwegs bist. Wenn du nur den leisesten Verdacht hast, dass dich jemand verfolgt, geh sofort zum nächsten öffentlichen Platz, und zwar zusammen mit möglichst vielen Freundinnen, okay?«
»Klar.« Amanda blickte unwillkürlich hinter sich. Beobachtete sie nicht jemand? Nein, da war niemand. Nur ein Fuchs, der an einem Müllsack zerrte.
»Ich muss jetzt los. Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Papiere und Ticket besorgen, solche Sachen.«
Amanda wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war völlig durcheinander, erschöpft von der Schicht, erfüllt von widersprüchlichen Gefühlen, Erleichterung, Angst, der Sorge, jemand könnte sie beobachten. In ihrem völlig überlasteten Gehirn fochten Gefühl und Verstand einen wilden Kampf miteinander.
»Ist schon klar. Ich …« Sie zögerte, weil sie fürchtete, im Strudel der Emotionen vielleicht zu viel zu sagen, etwas, das sie später bereuen würde. Die kühle Medizinerin in ihr gewann schließlich die Oberhand. »Du fehlst mir, Jack«, sagte sie schlicht.
Jack war ihr Zögern nicht entgangen. Er wusste genau, was es bedeutete und wie schwer ihre Worte wogen.
»Du fehlst mir auch, Mands«, erwiderte er und legte die gleiche bedeutungsvolle Schwere in den Satz. Einen kurzen Moment später fuhr er fort: »Ich muss jetzt wirklich los. Aber alles wird gut, ja? Wir fahren zusammen weg, wenn ich zurück bin. Irgendwohin, wo es schön ist. Wo wir uns entspannen können«, versprach er.
»Okay«, erwiderte Amanda.
Es klopfte an der Zimmertür. Archie erschien und warf eine Einkaufstüte auf das Bett.
»Alles klar bei ihr?«, fragte er sofort.
»Glaube schon. Bis jetzt jedenfalls.«
»Gut. Verdammt heiß da draußen«, sagte Archie und wischte sich über die Stirn. »Und auf dem Markt gibt es auch nicht viel zu kaufen.« Er nahm zwei Mangos aus der Tüte, schnitt sie mit seinem Jagdmesser in Stücke und reichte Jack etwas davon.
»Ich habe eine Cessna organisiert, die uns nach Burundi bringen wird. Wir werden ein paar Stunden in der Luft sein. Außerhalb der Stadt ist ein Flugplatz. In etwa einer Stunde nehmen wir ein Taxi dorthin.«
73
Ternan Avenue, Kampala, 09:30 Uhr
Beim Hinausgehen nickte Clarke dem Portier des Sheraton zu. Auf dem Gehsteig tupfte er sich die Stirn mit einem Leinentaschentuch ab. Bislang hatte er kein Glück gehabt. Die teuren Unterkünfte um den Nakasero Hill hatte er jetzt alle abgeklappert. Aber wahrscheinlich suchten sie Tarnung in der Menge. Dann waren nun eben die einfachen Hotels am Marktplatz dran, dachte er grimmig. Blieb noch
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