Dunkle Ernte
reizte, die Chance, sich auszuprobieren – und irgendwo in einem Winkel seines Gehirns der ebenso hartnäckige wie irrationale Gedanke, dass Paul genauso gehandelt hätte. Wahrscheinlich war es vor allem das: Jack wollte sehen, ob er seinem großen Bruder das Wasser reichen konnte.
Als der Zug in den Bahnhof von Cambridge einfuhr, erhob sich Jack von seinem Sitz. Es fühlte sich eigenartig an, ohne Gepäck hier anzukommen, ganz anders als sonst, wenn er mit Koffern und Taschen angereist war, um das neue Studienjahr zu beginnen. Diesmal hatte er andere Pläne. Aus dem Augenwinkel bemerkte er die zwei Männer vom Secret Service, die Sir Clive für ihn abgestellt hatte. Sie fielen nicht auf zwischen den Touristen; von militärischer Steifheit war, anders als er erwartet hatte, keine Spur zu sehen. Auf dem Bahnhofsvorplatz rief er ein Taxi. Normalerweise wäre er zu Fuß gegangen, als armer Student hätte er für zehn Minuten Entfernung kein Geld ausgegeben. Aber heute hatte er zu viel im Kopf, um sich auch noch Gedanken darüber zu machen, ob die hastig zusammengeflickte Wunde in seiner Seite den Weg zum King’s College überstehen würde.
Die Fahrt mit dem Taxi verlief ereignislos. Über der Stadt wölbte sich der für die Gegend typische Wolkenhimmel, die Straßen waren frei. Alles sah aus wie sonst auch an einem gewöhnlichen Sonntagnachmittag. Touristen machten Fotos von der King’s Chapel, und in der benachbarten Kneipe vertrieben sich Studenten gut gelaunt die Zeit mit Poolbillard. Ein paar von ihnen kannte Jack aus dem Programmierkurs – alles andere als langweilige Computer-Nerds, die außerdem so gebildet waren, dass es richtig Spaß machte, mit ihnen beim Pubquiz mitzumachen. Das war sein Leben gewesen, sein ganz normales Studentenleben, das er jetzt wie ein Außenstehender betrachtete, als sei es ein Theaterstück und er der Zuschauer. Es kam ihm vor wie ein Traum, der nachwirkte, auch wenn man längst wachgeworden war. Denk nicht darüber nach , zumindest für den Augenblick , beschwor er sich. Nun hieß es erst einmal abwarten, was die nächsten zwanzig Stunden bringen würden.
24
Queens Road, Cambridge
Die menschliche Natur war und blieb unberechenbar, ganz gleich, wie viel Mühe man sich bei Planung und Vorbereitung gab. Dr. Ahmed Seladin saß im Fond eines Mercedes-Vans und hörte sich Monsieur Blancs Anweisungen an. Er war im Grunde ein ruhiger, zurückhaltender, berechnender Typ, aber der Schlafmangel und der ständige Druck, den Auftrag erfüllen zu müssen, hatten ihn an den Rand einer Paranoia gebracht. Ob er je entkommen würde? Würde der Chinese ihm sein Geld geben und ihn nach Marokko zurückfliegen lassen, oder würde er ihn mit aufgeschlitzter Kehle irgendwo in einem feuchten, finsteren Waldstück außerhalb von Cambridge abladen?
»Bitte, Monsieur Blanc, gehen wir alles noch einmal durch, um Missverständnisse auszuschließen«, sagte Ahmed mit einem nervösen Lächeln.
Monsieur Blanc hob die Brauen. Der Marokkaner begann ihm allmählich Sorgen zu bereiten. Er hatte bei diesem Mann von Anfang an seine Zweifel gehabt. Aus dem Dossier über ihn wusste er von den Gerüchten, die sich um seine Zeit als Krankenhauschirurg rankten, und den Anschuldigungen, dass er Patientinnen gegenüber seine Vertrauensstellung ausgenutzt habe. Monsieur Blanc hatte das gar nicht gefallen, doch ihm waren diesmal bei der Auswahl seiner Leute die Hände gebunden. Als Geschäftsmann kannte Monsieur Blanc keine Skrupel, aber es gab gewisse Werte, die ihm heilig waren – eine Konsequenz seiner streng katholischen Erziehung.
Monsieur Blanc schlug den Touristenstadtplan von Cambridge auf. »Hier ist das King’s College. Das Zimmer des Jungen liegt am Third Court.« Er drückte einen Stummelfinger auf den Plan. »Er wird heute Nachmittag dort sein. Falls er noch nicht da ist, wenn wir kommen, warten wir. Sobald er auftaucht, entfernen Sie das Modul. Der Wagen wird dort auf uns warten. Wir fahren zu einem Privatflugplatz. Wie vereinbart, werden wir die Summe auf Ihr Konto überweisen, sobald wir in der Luft sind. In Marokko trennen sich dann unsere Wege.«
Ahmeds Augen weiteten sich. Obwohl die Formulierung ohne Hintergedanken gewählt war, sah er sich bereits von einem Schergen des Chinesen durch eine offene Flugzeugtür gestoßen und viele hundert Meter in die Tiefe stürzen. Er zwang sich erneut zu einem schwachen Lächeln. »Alles klar. Das ist wirklich ein guter Plan. Nur eines macht mir Sorgen, Monsieur
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