Dunkle Gebete
nach Cardiff mitzukommen, begriff ich. Ich hatte die verschiedenen Fallen, die er mir gestellt hatte, gemeistert, und er begann allmählich, mir wieder bis zu einem gewissen Maß zu trauen. Aber nicht genug. Es war an der Zeit, ein gewaltiges Risiko einzugehen.
Ich würde ihm die Wahrheit sagen müssen.
Ohne mir Gelegenheit zu geben, kalte Füße zu bekommen, verließ ich das Zimmer und ging barfuß zum Fahrstuhl. Nachdem ich zurückgekommen war, hatte ich mich umgezogen und trug jetzt weite Jogginghosen und ein Tanktop. An seiner Zimmertür angelangt, klopfte ich zaghaft.
Er öffnete mit nacktem Oberkörper; eine bunte Pyjamahose hing tief auf seinen Hüften. So wie er ins Flurlicht blinzelte, hatte ich ihn aus einem ziemlich tiefen Schlaf geholt. Als ihm klar wurde, dass ich es war, wurde der Ausdruck auf seinem Gesicht zu einer Mischung aus verwirrt, neugierig und hoffnungsvoll. Ich ließ ihm keine Chance, den Mund aufzumachen.
»Ich muss Ihnen etwas sagen«, verkündete ich.
Er rieb sich die Augen, dann machte er kehrt und ging wieder ins Zimmer. Ich folgte ihm und ließ die Tür hinter mir zufallen.
Joesburys Zimmer war sogar noch größer als meins, mit zwei Doppelbetten. Als er eine Nachttischlampe anknipste, sah ich, dass auf dem Bett, in dem er geschlafen hatte, eines der Kissen längs lag und zerdrückt war. Er hatte es beim Einschlafen in den Armen gehalten.
Auf dem anderen Bett waren die Hochglanzseiten eines Souvenirbuchs über das Ripper-Mysterium auf der Tagesdecke ausgebreitet. Ich besaß auch ein Exemplar dieses Buches. Als Nachschlagewerk war es so gut wie nutzlos gewesen, doch es bot perfekte Reproduktionen der meisten Originaldokumente, einschließlich der Leichenschaufotos der fünf Opfer. Joesbury, der wohl wie so viele andere dem Bann des Rippers erlegen war, hatte sie in chronologischer Reihenfolge auf dem Bett ausgelegt. Polly Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catharine Eddowes und Mary Kelly.
Er ging bis ans andere Ende des Zimmers. Ich nahm das Foto der verstümmelten Mary Kelly und schob es weiter aufs Bett, bevor ich mich auf die Ecke der Matratze hockte.
»Möchten Sie was trinken?«, bot er an. Ich schüttelte den Kopf.
Die riesigen Fenster waren einen Spaltbreit offen, und im Zimmer war es kalt. Die Nachtluft überzog seine Schultern mit Gänsehaut, und ich merkte, dass ich zitterte. Ich sah zu, wie er zum Bad ging, den Arm hineinstreckte und einen großen weißen Frotteebademantel hervorzog. Er hüllte sich darin ein, dann fischte er ein Sweatshirt aus einem Haufen Kleider auf einem Stuhl und warf es mir zu.
»Von Zentralheizung kriege ich nachts Kopfschmerzen«, sagte er.
Ich zog mir das Sweatshirt über den Kopf; es war das, das Joesbury den ganzen Tag angehabt hatte. Es war kühl, genau wie das Zimmer, doch der Geruch darin ließ mich an einen warmen Körper denken, der näher heranrückte. Als ich wieder aufblickte, schenkte er sich gerade an der Minibar einen Drink ein. Nunmehr deutlich wacher, ließ er sich in einem Sessel vor dem Fenster nieder und sah mich an.
Ich holte tief Luft. »Ich weiß, ich hätte Ihnen das längst erzählen sollen«, fing ich an. »Aber ich glaube, Sie werden verstehen, warum ich es nicht getan habe. Zumindest bis ich sicher war, dass es keine andere Lösung gab.«
Er hielt ein Glas mit ungefähr zwei Zentimetern bernsteinfarbener Flüssigkeit in der linken Hand und hob es an die Lippen.
»Wissen Sie noch, wie ich Ihnen erzählt habe, dass ich mal eine Weile auf der Straße gelebt habe?«, fragte ich ihn. Er neigte bejahend den Kopf, und das Glas kam mit einem gedämpften Klirren auf dem Tisch neben ihm zur Ruhe. »Und Sie wissen, dass ich früher ein Drogenproblem hatte?«
Wieder ein Nicken von ihm. Wieder ein tiefes Durchatmen meinerseits.
»Die Wahrheit ist, ich war völlig kaputt«, sagte ich. »Fast zwei Jahre lang vollkommen heroinabhängig. Es war viel, viel schlimmer, als ich der Polizei beim Bewerbungsverfahren erzählt habe.«
Eine Augenbraue hob sich.
»Denen habe ich erzählt, ich hätte früher mal ein Problem gehabt«, fuhr ich fort. »Das sei der Hauptgrund dafür, dass ich mein Studium nicht abgeschlossen habe. Aber bevor ich mich bei der Polizei beworben hätte, sei ich mehrere Jahre lang clean gewesen.«
Joesburys Augenbraue entspannte sich. Sein Blick war nicht von meinen Augen gewichen.
»Die haben jede Menge Tests gemacht«, meinte ich. »Und sie haben rausgefunden, dass ich, was das betrifft, die
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