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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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einfach mit ein paar von seinen Kumpels da aufgetaucht, wo wir gerade übernachtet haben«, berichtete ich. »Er hat nicht mal Geld von ihnen genommen. Die haben sich abgewechselt, bis sie genug hatten. Deswegen will ich zur Einheit für Sexualverbrechen. Weil mir das auch passiert ist.«
    Joesbury stand auf und schenkte sich einen neuen Drink ein.
    »Ich glaube, ich hätte einfach so weitergemacht«, sagte ich, »bis ich eines Tages das falsche Zeug gedrückt hätte oder einfach nur zu viel und nicht mehr aufgewacht wäre.«
    »Und was ist passiert?«, fragte er und setzte sich wieder.
    »Ich habe ein Mädchen kennengelernt.«
    Joesbury setzte sich auf seinem Sessel ein bisschen gerader auf.
    »Ich hatte sie schon seit ein paar Monaten immer mal wieder auf der Straße gesehen, als sie eines Tages einfach bei uns aufgekreuzt ist«, erzählte ich. »Sie war ungefähr so alt wie ich, vielleicht ein Jahr jünger oder so, und total naiv, was das Leben auf der Straße anging. Aber irgendwie war sie anders. Sie war so … entschlossen.«
    Joesbury stellte seinen Drink hin. »Inwiefern entschlossen?«
    »Sie hat keine Drogen genommen«, antwortete ich. »Mit Rich und seinen Freunden hatte sie nichts am Hut. Sie war nicht … ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich es sagen soll … sie war nicht hoffnungslos.«
    »Weiter.«
    »Sie hat nach jemandem gesucht«, erzählte ich. »Nach einem anderen Mädchen. Sie hatte ein Foto. Hat den ganzen Tag immer nur damit verbracht, in London rumzuziehen, überall da, wo viele Obdachlose sind, hat den Leuten das Foto gezeigt und rumgefragt.«
    »Hat sie Ihnen erzählt, wer das auf dem Foto war?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nie«, erwiderte ich. »Eigentlich hat sie nie viel von sich geredet. Ich wusste, dass sie im Heim und bei Pflegeeltern aufgewachsen war, so wie ich, und dass sie sonst nirgendwo hinkonnte, genau wie ich.«
    »Wie hieß sie?«
    »Ich habe sie Tic genannt.«
    Stirnrunzelnd sah er mich an. »Tic?«
    »Die Leute auf der Straße benutzen nicht ihre richtigen Namen«, erklärte ich. »Die meisten verstecken sich vor irgendwas oder vor irgendjemandem. Sie verwenden Spitznamen, erfundene Namen, verschiedene Namen. Sie hat gesagt, ich soll sie Tic nennen, und das habe ich getan.«
    »Glauben Sie, es war Victoria Llewellyn?«
    Ich nickte. »Ich glaube, ja, bestimmt«, sagte ich. »Aber Sie müssen mir glauben, sie sah überhaupt nicht so aus wie auf dem Foto, das wir haben. Zum einen war ihr Haar viel länger und hell, nicht richtig blond, aber fast. Sie hat ganz normale, praktische Klamotten getragen und überhaupt kein Make-up. Nie. Und sie hatte so ein, ich weiß nicht, so ein selbstsicheres Auftreten. Auf keinen Fall war das ein verkorkster walisischer Teenager.«
    »Walisischer Akzent?«
    »Möglich.« Er zog die Augenbrauen hoch, sah mich ungläubig an. »Hören Sie, ich war eine totale Schlafwandlerin, die meiste Zeit hätte ich Ihnen nicht mal was über meinen eigenen Akzent sagen können. Ich erinnere mich an eine wunderschöne, sanfte Stimme. Das ist alles.«
    »Okay, okay, immer mit der Ruhe. Was ist aus ihr geworden?«
    »Ich glaube – ich kann mich nicht genau an den Zeitrahmen erinnern, ich war damals so oft und so lange zugedröhnt –, aber ich glaube, sie hat das Mädchen gefunden, das sie gesucht hat, und das Ganze ist nicht gut ausgegangen.«
    Er beugte sich vor. »Sie war tot?«, fragte er. »Also, das würde doch passen. Wir wissen, dass Cathy ungefähr um diese Zeit …«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, wehrte ich ab. »Ich weiß noch, eines Abends bin ich zurückgekommen, und Tic war, als wäre das ganze Feuer in ihr plötzlich erloschen, aber irgendwie kam es mir nicht wie Trauer vor. Danach hat sie aufgehört, draußen rumzulaufen, hat einfach nur den ganzen Tag rumgehangen und gegrübelt. Als ich versucht habe, sie aufzuheitern, zu sagen, dass wir doch noch woanders suchen könnten, hat sie nur gesagt, es hätte keinen Sinn, manche Leute wollten eben einfach nicht gefunden werden.«
    »Vielleicht hatte sie das Suchen satt.«
    »Vielleicht«, antwortete ich. »Aber ich glaube, wenn das der Fall gewesen wäre, dann wäre die Veränderung langsamer gewesen. Das damals ist schlagartig passiert. Ich glaube, sie hat sie gefunden – Cathy –, und es war kein fröhliches Wiedersehen.«
    Joesbury seufzte. »Wissen Sie, es würde wirklich helfen, wenn Sie irgendeinen Zeitraum für das Ganze festmachen könnten«, bemerkte er.
    »Vor

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