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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Bolton
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Zeit.«
    Alle sahen mich an. Ich würde nicht darum herumkommen. Und das hier könnte durchaus meine Chance sein, ein bisschen Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, zumindest in Tullochs Augen. Also holte ich tief Luft, ging zu dem Flipchart hinüber und erzählte meinen neuen Kollegen die Geschichte von dem berühmtesten Mörder, der jemals gelebt hatte.

20
    »Jack the Ripper war ein Mensch aus Fleisch und Blut«, fing ich an, »aber er ist zu einem Mythos geworden. Und das macht es schwer, den Fall zusammenzufassen, denn zuallererst muss man die bekannten Fakten und die Legende voneinander trennen.«
    Tulloch zog sich einen Stuhl unter einem Schreibtisch hervor. Joesbury marschierte quer durch den Raum und stellte sich hinter sie. Plötzlich fiel mir ein, dass ich noch immer das »Alle mal hersehen«-Outfit trug, das ich gestern Abend im Pub angehabt hatte. Und dass das gesamte Team jetzt genau das tat: Es stierte mich an. So viel zur Zurückhaltung in Person.
    »Die Morde liegen über hundert Jahre zurück«, fuhr ich fort, »und Tausende Menschen aus aller Welt sind von diesem Rätsel in seinen Bann gezogen worden. Zur Zeit der Morde sind Fakten falsch wiedergegeben worden, manchmal von der Presse, manchmal auch von der Polizei, und diese Fehldarstellungen wurden dann so oft wiederholt, bis sie irgendwann als Tatsachen akzeptiert wurden.«
    Stühle schrammten über den Fliesenboden, als die Zuhörer es sich bequem machten. Mehr als zwanzig Officers, alle ranghöher als ich, hörten zu, was ich zu sagen hatte.
    »Im Laufe der Jahre sind Bücher geschrieben worden, die auf Irrtümern basieren, und dann weitere Bücher, die sich auf die fehlerhaften Bücher stützten«, berichtete ich. »Ranghohe Polizeibeamte, die mit dem Fall zu tun gehabt hatten, haben nach dem Ende ihrer Karriere ihre Memoiren geschrieben. Damit die sich verkaufen, haben sie darin ihre eigenen Theorien zum Besten gegeben, wer Jack gewesen sein könnte. Aber diese Theorien haben sehr oft keinerlei Bezug zu dem, was die Polizisten, die den Fall bearbeiteten, tatsächlich geglaubt haben.«
    Tulloch schrieb irgendetwas auf einen Notizblock.
    »Missverständnisse sind immer weiter am Leben erhalten worden«, machte ich weiter. »Es gibt Tausende von Websites, die sich mit diesen Morden befassen, Dutzende von Büchern, Filmen, Dokumentationen. Es gibt Touristenführungen durch Whitechapel, die Leute schauen sich die Tatorte von damals an und hören zu, wie jemand schildert, was passiert ist.«
    »Bei so was war ich auch mal dabei«, ließ sich Tom Barrett von ganz hinten im Raum vernehmen. »Damals hatte ich ’ne Freundin, die ist voll auf so was abgefahren. Ich konnt’s kaum bis zum nächsten Pub abwarten.«
    Ich lächelte ihm zu und war dankbar für die Unterbrechung. Das gab mir Gelegenheit, wieder zu Atem zu kommen. Seit ich angefangen hatte, hatten alle im Raum mir angespannt gelauscht. Selbst hier, begriff ich, bei Menschen, für die Mord und Gewalt alltägliche Vorkommnisse waren, konnte Jack immer noch seinen Zauber wirken.
    »Wenn man also das, was damals los war, annähernd akkurat analysieren will«, fuhr ich fort, »dann muss man sämtliche Sekundärquellen ignorieren und zu den Originaldokumenten zurückkehren. Zu den Berichten der Constables und Polizeiärzte, die damals dabei waren, zu den Untersuchungsprotokollen, Zeugenaussagen, Fotos. Auf besonders viel kann man sich da nicht stützen, aber wenn man sich nicht ausschließlich auf die Primärquellen konzentriert, läuft man irgendwann in die Irre. Ist das einigermaßen logisch?«
    »Absolut«, sagte Tulloch, und ich sah ein paar andere nicken.
    Ein wenig ermutigt machte ich weiter. »1888 und Anfang 1889 gab es neun Morde in Whitechapel«, dozierte ich und wandte mich zu Joesburys Straßenkarte an der Wand um. »Und ein paar Monate später noch zwei. Alle Opfer waren Prostituierte, die meisten schon etwas älter, und alle Frauen lebten in erbärmlichen Verhältnissen. Sie waren nicht hübsch, sie waren nicht einmal gesund. Sie waren die Verwundbarsten, weil sich eigentlich niemand um sie geschert hat.«
    Nur DS Anderson sah mich nicht an. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und starrte die Wand an. Aber er hörte zu, das merkte ich daran, wie still er dasaß.
    »Hauptsächlich wegen der den Opfern zugefügten Verletzungen«, setzte ich meinen Vortrag fort, »sind sich die Leute im Großen und Ganzen einig, dass nur fünf von diesen Morden definitiv das Werk ein und desselben

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