Dunkle Gebete
hatte. »Das ist ’ne Luftpistole. Schnappt euch das Arschloch!«
Joesbury und der Beamte an seiner Seite wechselten Blicke. Die Pistole, die vielleicht echt war, vielleicht aber auch nicht – so sicher war ich mir ehrlich gesagt nicht –, wurde fester gegen meine Schläfe gedrückt und ich merkte, wie irgendetwas in meinem Hals drauf und dran war zu reißen. Dann wurde ich plötzlich nach hinten gezogen, und meine Füße berührten den Boden nicht mehr.
Panik schoss wie glühende Nadeln durch mich hindurch.
Die Wärme von Coopers Körper war verschwunden, doch er hielt mich immer noch fest gepackt. Ich wurde gegen den dicken Stahlträger des Geländers gepresst. Scheiße, Cooper war auf der anderen Seite und lehnte sich übers Wasser hinaus. Nur sein fester Griff um meine Taille verhinderte, dass er hinunterstürzte.
»Das ist keine gute Idee, Sam.« Joesbury kam wieder näher. »Wir haben Ebbe. Das Wasser ist bestimmt nicht tiefer als einen Meter. Der Sturz wird Sie umbringen.«
Am gegenüberliegenden Flussufer war nichts von den verdreckten, müllübersäten Sandstreifen zu sehen, die bei Ebbe auftauchen. Das Wasser würde tiefer sein, als Joesbury sagte. Ein schwacher Trost, denn inzwischen hatten nur noch meine Schuhspitzen Bodenkontakt, und mein Rückgrat würde jede Sekunde entzweibrechen.
»Da geht’s zwanzig Meter runter, Sam«, warnte Joesbury. »Mehr als beim olympischen Turmspringen. Das überleben Sie nicht.«
Die Bögen der Vauxhall Bridge liegen bei vollständiger Ebbe zwölf Meter über der Wasseroberfläche. Wenn man noch ein paar Meter bis zur Fahrbahn hinzurechnete, betrug der Abstand höchstens vierzehn Meter. Trotzdem keine berauschende Aussicht. Es fällt nicht oft jemand von einer Brücke in die Themse und bleibt am Leben.
»Sie sind genau über einem von den Betonsockeln«, erklärte Joesbury, der fast nahe genug herangekommen war, um uns zu berühren. »Sie kommen gar nicht erst bis runter ins Wasser.«
Ich konnte nicht nach unten blicken, doch ich betete, dass Joesbury auch diesbezüglich Blödsinn erzählte. Wenn wir ins Wasser fielen, hatten wir eine Chance. Wenn wir auf Beton landeten … dann konnten wir das Ganze vergessen.
»Ich hab nichts gemacht. Da will mir einer, verdammt noch mal, was anhängen!«
Joesburys Augen zeigten keinerlei Regung. »Komm schon, Alter, komm wieder hier rüber. Wir kriegen das geregelt.«
»Leck mich!«
Joesbury machte einen Satz vorwärts, gerade als Cooper mich hochzog und über das Geländer zerrte. Einen Augenblick lang fühlte ich eine Hand um meinen Fuß. Mein Blick begegnete dem von Joesbury, und ich sah, wie er vor Schmerz die Augen zusammenkniff. Seine ausgerenkte Schulter. Der Druck seiner Hand währte noch eine Sekunde länger. Dann ein rutschendes Gefühl, als mein Fuß aus dem Turnschuh glitt und ich fiel.
Ich konnte entsetzte blaue Augen sehen, den wie schwarze Tinte schimmernden Fluss und bunte Lichter, die sich vom Nordufer her wie Bänder über das Wasser nach uns streckten. Einen Moment lang war ich überrascht. Ich hatte mir oft meinen eigenen Tod ausgemalt, aber so war es niemals gewesen. Dieses eigenartige Gefühl, dass es einem gleichzeitig absolut super und vollkommen beschissen ging. Dann übernahm der Instinkt, und ich riss die Arme über den Kopf. Gerade noch rechtzeitig. Das Wasser knallte so hart gegen mich, dass ich dachte, ich wäre wirklich auf Beton gelandet, und dann verwandelte sich die Welt in ein tiefes dunkles Loch.
46
Ich sinke immer tiefer, so schnell, dass es sich anfühlt, als würde ich immer noch fallen. In eine Schwärze hinab, die dicht genug ist, um stofflich zu sein, und ich weiß, dass ich, sämtlichen Instinkten zum Trotz, nicht in Panik geraten darf. Mir bleiben nur Minuten. Wenn man mitten im Winter in Höhe Westminster in die Themse fällt, dauert es ungefähr hundertzwanzig Sekunden, bis die Kälte einem die Glieder lähmt und man auf den Grund sinkt. Mitte September habe ich vielleicht ein paar Minuten mehr Zeit.
Noch immer in schneller Bewegung. Nutze diese Minuten. Arme und Beine jetzt abgespreizt, um zu bremsen. Umschauen. Brennende Augen. Nichts zu sehen, außer wabernder dunkler Umrisse. Lichter. Die Lichter vom Ufer über mir. Ich sinke nicht mehr, aber ich gleite trotzdem schnell dahin. Die Strömung hat mich gepackt.
Schwimm. Nach oben, zu den Lichtern. Nicht einatmen. Nicht an den Fluss denken, an die Finsternis unter mir, an die Wasserpflanzen, die wirr durch mein Gesicht
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