Dunkle Gebete
Automatisch hob ich den Blick zu dem Spiegel darüber. Ein Gesicht, das ich noch nie gesehen hatte, starrte mir entgegen. Rasch trat ich zurück, als würde es verschwinden, wenn ich nicht hinschaute. Tat es aber nicht, in Joesburys Miene konnte ich lesen, dass es immer noch da war. Ich hob die Hände, um dieses abstoßende Geschöpf zu verbergen, zu dem ich geworden war. Dann legte sich ein Arm fest um mich, und ich schluchzte in ein schwarzgraues Sweatshirt.
»Neunzig Prozent davon sind oberflächliche Verletzungen«, sagte er an meinem Ohr. »Ich habe mit einem von den Ärzten gesprochen. Das meiste sind Schwellungen und blaue Flecke. In ein paar Wochen ist das weg.«
Ich konnte nicht aufhören zu weinen.
»Sie haben bestimmt irgendwas ins Gesicht gekriegt«, fuhr Joesbury fort. »Gott sei Dank hatten Sie noch Ihren Fahrradhelm auf.«
»Wofür ist denn der Verband?«, brachte ich mühsam hervor. Meine Nase hatte ich nicht gesehen; wo sie hätte sein sollen, war ein großes, quadratisches Pflaster.
»Ihr Nasenbein ist gebrochen, dicht über …«
Ich weinte nicht mehr. Ich heulte Rotz und Wasser.
»Schsch, hören Sie auf. Es wird alles gut. Die Polizei zahlt dafür, dass sie alles wieder wie neu machen.«
Ich gab mir Mühe aufzuhören. Wirklich. Unter anderem bekam ich allmählich kaum noch Luft.
»Was ist sonst noch?«, nuschelte ich.
Joesbury seufzte. »An der rechten Schläfe haben Sie eine kleine Platzwunde. Wenn da eine Narbe zurückbleibt, dann eine winzig kleine. Die Innenseite ihrer Unterlippe musste genäht werden, aber was da an Narben bleibt, ist innen im Mund.«
Tief durchatmen. Auf Joesburys Sweatshirt war Blut. Meins.
»Das ist alles, ich versprech’s. In ein paar Wochen sind Sie so bildhübsch wie eh und je.«
Ich fuhr mir mit den Händen übers Gesicht – Mann, tat das weh –, dann blickte ich auf. Ich hob die Finger und berührte eine Narbe – seine. Mehrere ausgedehnte Sekunden lang sahen wir einander nur an. Dann sagte er: »Es tut mir leid.«
»Dass Sie meinen Schuh erwischt haben anstatt meinen Knöchel?« Ich wusste, dass es hier nicht um das ging, was auf der Vauxhall Bridge passiert war.
»Dass ich Ihnen in letzter Zeit so viel Stress gemacht habe«, erwiderte er.
Ich konnte ihn nicht mehr ansehen. »Sie waren ein absolutes Arschloch«, bemerkte ich.
»Sie waren ein absolutes Arschloch, Sir«, verbesserte er mich und zog mich noch näher an sich heran. »Und, ja, ich weiß.«
»Warum?«, wollte ich wissen und wagte es nicht ganz, den Blick von den Tränenflecken auf seinem Sweatshirt zu lösen.
Sein linker Arm zuckte in der Schlinge, als wollte er auch ihn um mich legen, und er stieß einen kleinen Seufzer aus. »Dana glaubt, ich bin total verknallt in Sie und ziehe hier die alte Männernummer ab, sexuelle Frustration durch unbegründete Aggression abzureagieren«, sagte er.
Also waren er und Dana doch nicht … Aua. Grinsen tat unheimlich weh.
»Hat sie recht?«, fragte ich den Tränenfleck halblaut.
»Wahrscheinlich«, antwortete Joesbury, während ich überlegte, wie schmerzhaft Küssen wohl wäre. »Obwohl ich mir ja eingeredet habe, dass ich hier lediglich die alte Nummer abziehe: begründeter Verdacht angesichts einer noch warmen Leiche und einer blutverschmierten Zeugin.«
Das Grinsen hatte sich erledigt. Ich legte den Kopf zurück, um ihm in die Augen zu sehen. »Sie dachten, ich hätte Geraldine Jones umgebracht?«
»Na ja, betrachten Sie das Ganze mal von meinem Standpunkt aus, Flint«, erwiderte er, während mir klar wurde, dass ich gerade genau das tat. »Die Jones ist in diese Wohnsiedlung gefahren, um sich mit jemandem zu treffen, und Sie treiben sich da jetzt schon seit einer ganzen Weile jeden Freitagabend rum. Sie hatten frei, als Amanda Weston verschwunden ist und als sie umgebracht wurde. An dem Morgen, als bei Emma Boston eingebrochen wurde, sind Sie spät zum Dienst gekommen. Von den äußeren Umständen her hätten Sie es gewesen sein können. Sie haben eine Vorgeschichte in Sachen Drogen – ja, ich weiß, alles Jugenddelikte und sehr lange her –, und Sie haben außerdem die mysteriöse Angewohnheit, in den frühen Morgenstunden in Camden herumzulaufen.«
Joesbury dachte, ich hätte Geraldine Jones getötet? Während ich geglaubt hatte, meine Vergangenheit käme ihm verdächtig vor, meine Jugendstrafen, hatte er gegen eine potenzielle Mörderin ermittelt? Wer hatte das sonst noch von mir gedacht? Und was zum Teufel hatten sie
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