Dunkle Gebete
über Rona und ihre Freundinnen und das Problem der Gruppenvergewaltigungen in London schrieb, erschien acht Tage später. Auf der ersten Seite des Feuilletons der Sunday Times prangte das Foto eines jungen schwarzen Mädchens, das traurig über die Themse starrte. Es war ein Agenturfoto – sämtliche Mädchen, die etwas zu Emmas Geschichte beigetragen hatten, blieben anonym –, aber es sprach Bände darüber, was es heißt, in London jung, schwarz und weiblich zu sein. Und Angst zu haben.
Die Story zu dem Foto nahm kein Blatt vor den Mund und war ganz sicher keine heitere Sonntagmorgenlektüre. Die Polizei von London wurde als solche nicht kritisiert. Emma hatte mit der Leiterin der Sapphire Units gesprochen und ihre Kommentare in den Artikel aufgenommen, doch wurden auch Fragen gestellt, die den Kern des Problems erfassten. Zum Beispiel, ob die Behörden einen gefährdeten Teil der Gesellschaft im Stich ließen, indem sie sich ganz einfach weigerten, sich unbequemen Wahrheiten zu stellen.
Kurz nachdem er erschienen war, rief Emma mich an und erzählte, dass die Sunday Times einen Folgeartikel in Auftrag gegeben hatte; diesmal sollte sie mit den Verantwortlichen in der Stadtverwaltung und in den Schulen sprechen. Es war sogar die Rede davon, den Artikel für eine Auszeichnung vorzuschlagen.
Während der letzten Septembertage entwickelte ich allmählich so etwas wie ein Sozialleben. Am Tag nach der Anhörung zu Amanda Westons Tod bestand das Team darauf, dass ich mit zum Bowling kam, und zu meinem Erstaunen erhob ich keine Einwände. Meine Rippen waren noch nicht in der richtigen Verfassung, um mitzumachen, aber ich saß daneben und gab mir Mühe, nicht zu sehr zu lachen.
Ein paar Tage später gingen wir essen, in einem kleinen Café in der Nähe der Brick Lane, wo man sich sein Bier selbst mitbringen muss. Diesmal schloss Joesbury sich uns an, den Arm noch immer in der Schlinge. Er sprach den ganzen Abend kein Wort mit mir, aber mehr als einmal begegnete ich beim Aufschauen seinem Blick. Und irgendwie konnte ich nicht anders: Ich fragte mich, ob der braune Teddybär und ich wohl eines Nachts in nicht allzu ferner Zukunft Gesellschaft haben würden.
Und dann, am 1. Oktober, über hundert Jahre, nachdem Elizabeth Stride in dem Hof hinter der Berner Street umgekommen war, nahm mein unbeschwertes neues Dasein ein jähes Ende.
49
Montag, 1. Oktober
Charlotte Benn liegt auf dem großen Doppelbett im Schlafzimmer. Verkehrt herum. Ihre Füße, noch immer in den Schuhen, die sie anhatte, als sie die Tür geöffnet hat, liegen auf dem Kopfkissen. Auf dem Kopfkissen ihres Mannes. Es wird ihm nicht gefallen, beim Nachhausekommen eine Delle darin vorzufinden. Charlotte hatte das Bett bereits gemacht, hatte das Laken an den Ecken straffgezogen, alle Falten glattgestrichen, Kissen und Daunendecke aufgeschüttelt, die Wolldecke zusammengefaltet, die Seidenkissen sorgfältig zurechtgelegt. Das wird sie alles noch einmal machen müssen, wenn das hier vorbei ist.
»Kann ich mich hinsetzen?«, fragt sie.
»Nein«, antwortet die Stimme.
»Ich glaube, mir wird schlecht«, sagt sie.
Keine Antwort.
»Die Tagesdecke kann man nicht waschen«, sagt Charlotte. »Die muss in die Reinigung.«
»Hübsches Zimmer«, bemerkt die Stimme. »Selbst eingerichtet?«
»Ja«, antwortet Charlotte, obwohl das nicht stimmt. Sie hat eine sehr teure Innenarchitektin engagiert, die ihr eine ihrer Freundinnen empfohlen hatte. »Ich habe alles selbst ausgesucht«, fährt sie fort. »Es hat Wochen gedauert.«
»Die neutralen Farben kommen gut zur Geltung«, sagt die Stimme ihr ins Ohr. »Mögen Sie die am liebsten? Neutrale Farben, meine ich.«
»Wir haben Geld im Haus«, sagt Charlotte. »Unten im Safe. Ein paar hundert Pfund, glaube ich. Ich kann Ihnen die Kombination sagen. Sechs, sieben, drei …« Direkt hinter sich kann sie ein raschelndes Geräusch hören. »Was machen Sie da?«, fragt sie.
»Ich wollte Sie etwas über Moral fragen«, sagt die Stimme. »Was meinen Sie, sind Moralvorstellungen absolut? Oder können sie sich verändern? Nicht bewegen, sonst blase ich Ihnen den Kopf weg.«
Charlotte zwingt sich, ganz still zu liegen. »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, stammelt sie. »Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemand anderem.« Sie fängt an zu weinen und fragt sich, ob ihre Wimperntusche wohl Flecken auf der Tagesdecke hinterlassen wird.
»Wenn jemand, den Sie lieben, ein schreckliches Verbrechen begehen würde«, sagt die
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