Dunkle Gewaesser
von wo weglaufe, wo ich gestern noch gar nicht war.«
»Was hast du da gesagt?« Jinx hielt inne, eine Wäscheklammerin der einen Hand und ein Paar Unterhosen in der anderen. »Wer ist nicht dein Daddy?«
»Da staunst du, was? Don ist nicht mein Vater. Drüben in Gladewater wohnt ein Kerl namens Brian Collins, und der ist mein Daddy. Ein Anwalt.«
»Erzähl keinen Mist.«
»Stimmt aber.«
»Das ist ja der Hammer!«
»Das ist das Beste, was mir seit Langem passiert ist. Jetzt weiß ich wenigstens, dass ich nicht mit diesem Kotzbrocken verwandt bin.«
»Immerhin hat er dich großgezogen.«
»Nein, das hat Mama getan, zumindest hat sie’s versucht, und dann hat sie sich ins Bett gelegt und keinen Finger mehr gerührt, seit ich alt genug bin, um nicht mehr in die Hose zu machen. Was ich wohl damit sagen will, Jinx – ich geh weg von hier, und wenn ich’s allein tun muss.«
Jinx ließ die Bemerkung in der Luft hängen wie die Wäsche an der Leine. Wir setzten einen Fuß neben den anderen, hängten Wäsche auf, und als wir damit fertig waren, fragte sie: »Wann gehst du los?«
»So bald wie möglich. Vorher möchte ich mir aber die Karte noch mal anschauen, vielleicht krieg ich ja raus, wo das Geld ist, und dann nehm ich’s mir, verbrenne May Lynn, schütte ihre Asche in eine Urne und verschwinde. Wenn ich hier fertig bin, geh ich zu Terry und red mit ihm, hol mir die Karte und schau, wie’s dann läuft. Entweder ich pack das jetzt oder geh dabei drauf. Ich mach jedenfalls, dass ich Land gewinn. Ich will von hier weg, und zwar bald. Mama hat so gut wie aufgegeben. Das hat sie mir mehr oder minder eingestanden. Und als ich ihr erzählt hab, dass ich abhauen will, hat sie mir ihren Segen erteilt. Außerdem mag ich sie gerade nicht besonders, nachdem sie mir erst jetzt verraten hat, dass ichund Don nicht verwandt sind. Genauso gut hätte sie mir sagen können: ›Ach, übrigens, diese beiden Beine, die gehören gar nicht dir. Die hab ich jemand geklaut, als du geboren wurdest, und jetzt wollen sie sie wiederhaben.‹«
»Vielleicht hat sie gedacht, du kämst besser damit klar, wenn du älter bist«, sagte Jinx.
»Ich weiß nur, dass ich froh bin, dass er nicht mein Vater ist, und Mama sagt, mein richtiger Daddy wär ein guter Mann.«
Jinx nickte, nahm den leeren Wäschekorb und stapfte Richtung Haus. Ich folgte ihr. »Du solltest dran denken«, sagte sie, »dass du deinen richtigen Daddy gar nicht kennst, und deine Mama hat ihn schon seit sechzehn Jahren nicht mehr gesehn. Gut möglich, dass er so ist wie Don. Oder schlimmer. Vielleicht ist er sogar tot.«
»Sag nicht so was!«
»Ich will dir ja nicht die Laune verderben, aber als deine Freundin muss ich dich warnen. Nur weil alles furchtbar ist, heißt das nicht, dass es jetzt besser wird. Manchmal wird’s schlimmer, erst recht, wenn du denkst, jetzt kann’s nicht mehr schlimmer werden.«
»Das ist aber keine besonders vielversprechende Art, in die Zukunft zu schauen«, sagte ich.
»Nein. Aber so läuft’s eben oft.«
»Hoffentlich nicht.«
»Ach, übrigens«, sagte Jinx mit einem Grinsen, »gibst du sie zurück?«
»Was denn?«
»Die Beine, die deine Mama geklaut hat.«
Terry wohnte im Ort. »Ort« hieß in diesem Fall nicht viel mehr als eine Handvoll Gebäude, die so aussahen, als hätte ein Tornado sie irgendwo mitgerissen und an einer krummen Straße wieder abgesetzt. Das Haus, in dem er wohnte, befand sich ein Stück wegvon der Hauptstraße an einem asphaltierten Weg. Es war ein ziemlich hübsches Haus, wie das von Jinx, nur größer. Rechts und links davon standen auch Häuser, im Unterschied zur Ortsmitte ordentlich in einer Reihe nebeneinander und einigermaßen ähnlich im Aussehen. Alle Häuser dort hatten einen kleinen Vorgarten und einen Garten dahinter und ein paar Blumenbeete, und an dem Tag hockte ein kleiner, fetter Junge mit karottenroten Haaren in Terrys Vorgarten. Ihm war grüner Rotz aus der Nase bis zum Mundwinkel gelaufen und festgetrocknet, wie das Zeug im Graben hinterm Klohäuschen.
Der Garten war von einem weißen Zaun mit einem Schwingtor umgeben. Ich trat hindurch und winkte dem Jungen. Es war einer von Terrys Stiefbrüdern. Terry hasste seine ganze angeheiratete Familie. Was ihm meiner Meinung nach am meisten missfiel, war, dass er nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Seit sein Stiefvater mit seinen Kindern aufgekreuzt war, hatte er immer das Gefühl, ohne Hut draußen im Regen zu stehen. Ich fand ja,
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