Dunkle Häfen - Band 1
keinerlei Umstände machen."
"Oho!" , rief die Frau aus und drehte sich zu ihren Leuten um. "Leid tut es ihr! Und gehen will sie, das arme Schätzchen! Dann geh doch, Kleine! Dazu solltest du aber gut schwimmen können!"
"Was?"
Die Piraten machten Ramis lachend Platz, als sie zur Reling rannte. Tatsächlich: um sie herum war nur Wasser. Glitzernde blaue Fläche, soweit das Auge reichte. Ein scharfer Wind schlug ihr entgegen. Kein Land mehr in Sicht. Ramis fühlte, wie ihre Kräfte sie verließen. Es gab keine Rettung mehr. Sie stolperte zu Edward zurück und drückte ihn an sich, ganz grau im Gesicht.
"Wie lange... sind wir auf See?"
Die Piratin zuckte v erächtlich die Achseln.
"Zwölf Stunden? Vielleicht auch mehr?"
Ramis strich Edward leicht übers Haar. Tiefe Hoffnungslosigkeit übermannte sie. Viele Meilen trennten sie bereits von Bristol und sie würde die Stadt wohl nie wieder sehen, denn sie waren diesen Piraten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ihr schauderte.
Die Piratin beobachtete ihre Gefangenen mit der ungewöhnlichen Geschichte, die vermutlich erlogen war, voller Hohn. Doch als sie bemerkte, wie die Hände der jungen Frau zitterten, während sie dem Jungen beruhigend die Schulter drückte, überkam sie doch etwas wie Mitleid. Dieses Gefühl konnte sie sich nicht oft leisten, in ihrem Metier. Vielleicht rührte dieses Mädchen einen tief verschütteten Mutterinstinkt in ihr, so verloren wie es dort stand. Nachdenklich geworden überlegte sie. Ihre Männer warteten ihre weiteren Befehle ab. Sie rechneten damit, dass man die zwei ungebetenen Gäste über Bord werfen oder ihnen den Kopf abschlagen würde. Frauen brachten nur Unglück auf Schiffen. Doch die Entscheidung des Kapitäns, auch eine Frau, überraschte sie alle.
"Eigentlich kommt ihr gerade recht. Wir können zwei neue Schiffsjungen gebrauchen, jetzt, da die letzten verreckt sind. Ihr zwei werdet also für alle Arbeiten zuständig sein, die nicht Aufgabe der Matrosen sind."
"Aber Käpt'n!" , protestierte Thomas scharf. "Sie ist eine Frau! Man kann doch nicht einfach..."
"Halt endlich dein vorlautes Maul!" , unterbrach die Frau ihn ungehalten. "Hast du vergessen, dass ich auch eine Frau bin? Warum sollte der Schiffsjunge nicht auch eine sein? Ihr mit euren verdammten Vorurteilen und eurem Aberglauben." Die Piratin sah sich suchend um. "Hey Grey, komm mal her! Bring sie in die Abstellkammer! Und dass keiner von euch sie anrührt!", fügte sie warnend hinzu. " Ist das klar, Thomas?"
Der ungehobelte Kerl nickte verdrießlich. Damit war die Sache zur Genüge geregelt und die Piratin ließ die überrumpelte Ramis mit all ihren Fragen allein. Sie rieb sich die Augen, als wäre alles nur ein Traum. Gab es denn noch Wunder? Oh Glück, du bist so launisch wie das Wetter im April. Kennst du denn keine Beständigkeit? Edward rüttelte sie heftig an den Schultern.
"Tante! Jetzt komm endlich!"
Sie raffte sich auf und fasste Edwards Hand. Ein kleinwüchsiger Mann mit schlauen Rattenaugen wartete ungeduldig auf sie. Er war überraschend jung, wie Ramis auf den zweiten Blick feststellte. Viele Mitglieder der Mannschaft schienen kaum über zwanzig zu sein. Sie folgten ihm unter Deck. Ramis war unsicherer geworden, ohne die Gegenwart der Piratin, die ihr nun wünschenswert erschien. Sie hatte Edward und Ramis vor den grässlichen Männern gerettet.
Der Junge gewann schon seine Unverfrorenheit zurück und war sichtlich fasziniert vom Inneren des Schiffes. Für ihn ging auf diese verrückte Weise ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Ich will Seemann werden, hatte er einst gesagt. Ramis dagegen war noch nicht bereit, die Sache optimistisch zu betrachten. Sie wollte erst abwarten, bevor sie sich Hoffnung erlaubte.
Der Bauch des Schiffes war geräumiger, als es von oben den Anschein gehabt hatte. Trotzdem herrschte eine qualvolle Enge hier. Es gab kaum Räume und die wenigen waren vollgestopft mit Vorräten oder mit allerlei Seemannsgeräten, die Ramis nicht einordnen konnte. Der Pirat brachte sie anscheinend ganz nach unten in den Bauch. Dort stieß er eine Tür auf und hieß sie eintreten. Es war dunkel da drinnen und vollgepackt mit Gerätschaften. Ramis überlief ein Schauder, als ihr klar wurde, dass sie dort von nun an Nacht für Nacht schlafen sollte. Sicher gab es auch Ratten. Sie hatte jedoch die Mannschaftsquartiere gesehen – ein einziger großer Raum, der noch für andere Zwecke benutzt wurde, außer dass in ihm geschlafen wurde. Nachts
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