Dunkle Häfen - Band 1
voller Selbstvorwürfe, als sie durch die leeren, nassen Straßen wanderte. Sie mied die Gegend um den Goldenen Drachen , der jetzt nur noch Asche war. Die Luft war nicht weniger schwül als vor dem Gewitter und troff nun vor warmer Feuchtigkeit. Ramis Kopf hatte intensiv angefangen zu schmerzen und ihre Lungen brannten von all dem Rauch, den sie eingeatmet hatte. Trotz der Wärme fror sie entsetzlich in ihrem zerrissenen Hemd. Instinktiv wandte sie sich in Richtung Hafen, einen Weg, den sie gut kannte.
Edward saß in seinem Versteck fest, das in der Nähe der Kais lag. Er hatte sich gut versteckt, aber zu seinem Pech hatte sich bald eine Gruppe der Piraten in seiner Sichtweite postiert. Wie dumm von ihm, vergessen zu haben, dass ja ihr Schiff im Hafen liegen musste und die Kerle irgendwann dorthin zurückkehren würden. Jetzt konnte er nicht mehr weg. Die Piraten prahlten und scherzten miteinander. Edward überlegte sich, wie sie aufgespießt und wie ein Braten über dem Feuer geröstet aussehen würden. Da hörte er leise hallende Schritte aus einer Seitengasse. Neugierig spähte er ins Halbdunkel der Straße. Tatsächlich, eine Gestalt, deren Umrisse undeutlich verschwammen, kam die Straße entlang. Ihre Gangart war ein wenig unsicher, vielleicht war sie betrunken. Wer auch immer es war, er würde direkt den Piraten in die Arme laufen. Er musste sowohl blind als auch taub sein, weil er sie nicht bemerkte oder er war eben betrunken. Eine letzte Möglichkeit wäre, dass die Gestalt nichts von den Piraten zu befürchten hatte, weil sie zu ihnen gehörte. Irgendetwas kam Edward jedoch bekannt an dem Neuankömmling vor, war es nun der Gang oder die weibliche Silhouette. Es war Ramis, wie er feststellen musste, die dort arglos und in ihrer ganz typischen Versunkenheit entlang kam. In diesem Zustand hätte sie eine ganze Armee umzingeln können und es wäre ihr nicht aufgefallen. Wie konnte sie nur die Piraten überhören?
"Ramis!" , rief er leise. Er war sich sicher, dass sie ihn ebenfalls nicht hörte, denn sie reagierte lange nicht. Plötzlich jedoch drehte sie den Kopf. Sie schien aus einem ihrer Träume aufzuwachen, in die ihr niemand folgen konnte.
"Edward?"
"Tante!" , zischte er. "Sei leise und komm her!"
Ihr Schatten verharrte und fragte: "Bist du das wirklich?"
"Ja! Aber versteck dich jetzt!" Wie konnte sie nur so begriffsstutzig sein?
"Was ist denn los?" , Ramis war verwirrt.
"Verdammt..." , Edward registrierte, dass es zu spät war, denn man hatte sie bereits entdeckt.
Es war nicht einmal die Gruppe, die schon die ganze Zeit dort gestanden hatte, sondern neue Männer, die Ramis gefolgt sein oder sie zumindest in der Ferne gesehen haben mussten. Mit lautem Gegröle kamen sie heran. Die anderen wurden nun doch aufmerksam. Es hatte keinen Sinn mehr, sich versteckt zu halten. Ohne zu Zögern sprang er aus seinem Versteck und packte Ramis Hand. Aus reinem Instinkt stemmte sie sich einen Moment dagegen an, ließ sich dann aber vertrauensvoll mitziehen. Der Junge fragte sich, was mit ihr los war. Sie wirkte wie in einem Delirium. Sie hetzten über einen freien Platz, während von hinten und von links Piraten kamen.
Ramis hatte die Piraten inzwischen natürlich auch bemerkt, auch wenn sie ihr vorher wegen ihrer stechenden Kopfschmerzen und dem Schwindelgefühl entgangen waren. Die Welt drehte sich wild um sie. Doch sie nahm sich zusammen. Jetzt, wo sie Edward endlich gefunden hatte, konnte sie nicht alle Verantwortung auf ihn abwälzen. Sie war die Ältere. Also musste sie die Sache nun anpacken. Vermutlich würden sie die angetrunkenen und erschöpften Männer bald abhängen können, stellte sie ganz logisch fest. An ihre Lungen, die bei den tiefen Atemzügen höllisch schmerzten, dachte sie besser erst gar nicht. Der Abstand vergrößerte sich schon ein bisschen. Doch auch sie wurde unaufhaltsam langsamer. Gleich einem Fisch auf dem Trockenen schnappte sie nach Luft. Edward zerrte Ramis weiter. In einer dunklen Gasse konnten sie ihre Verfolger letztendlich loswerden, als sie sich in einem verborgenen Winkel versteckten. Ramis glaubte, man müsste ihr hilfloses Atemholen einfach hören. Die berauschten Piraten rannten jedoch an ihnen vorbei, ohne sich umzusehen. Die beiden atmeten erleichtert auf. Dennoch brauchte Ramis noch eine ganze Weile, bis sie wieder richtig Luft bekam. Sie hielt sich die Hand an den Hals und wünschte, der Schmerz möge bald aufhören. Edward sah sie nur an und sagte nichts.
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