Dunkle Häfen - Band 1
dasselbe hinaus, jeder einzelne stand in der Rangor dnung über ihnen. Man machte ihnen bald klar, dass sie keinerlei Sonderstellung auf dem Schiff einnahmen. Die Tage verstrichen rasend schnell, kaum waren sie an Deck zum Arbeiten angetreten, war es auch schon wieder Abend und sie fielen todmüde ins Bett. Dazwischen gab es magere Rationen Schiffszwieback oder Pökelfleisch, stets dasselbe. Immerhin blieb da keine Zeit zum Nachdenken. Durch eine Verlagerung der Wasserfässer in ihr altes, kühleres Zimmer hatten Ramis und Edward die Gelegenheit, ein Stück weiter nach oben zu ziehen, in einen kleinen Raum, in dem die Fässer zuvor gelegen hatten. Im Gegensatz zu früher gab es dort sogar eine kleine Luke, die ihnen mehr Licht und frische Luft spendete, weil das Zimmer nun sicher über dem Meeresspiegel lag. Es machte alles gleich ein wenig erträglicher, ganz abgesehen davon, dass ein eigenes Zimmer für zwei Schiffsjungen ein nahezu unverschämtes Privileg war. Nur der Kapitän und der Quartermeister – das war Thomas – als Stellvertreter des Kapitäns hatten ebenfalls eines. Doch Bess befürchtete Unruhen unter den Männern, wenn eine Frau in ihrem Zimmer schlief.
Allmählich gewöhnte Ramis sich gezwungenermaßen ein, auch wenn es ihr immer noch wie ein seltsamer Traum, mehr ein Alptraum, erschien. Edward kam dagegen mit den neuen Umständen weit besser zurecht. Er entwickelte einen starken Willen, alles zu lernen, was das Schifffahren betraf. Er wollte mehr werden als nur Schiffsjunge. Ramis dachte sich, dass er zum Piraten geboren war. Ihn akzeptierte die Mannschaft viel eher als Ramis, die eine Frau war. Ihr fehlten die Eigenschaften, die Bess zum Kapitän gemacht hatten. Sie konnte nicht richtig mit Männern umgehen, sie hatte keine so laute und beeindruckende Stimme. Und sie hatte nie gelernt, wie man jemanden richtig einschüchterte. Sie war mal wieder völlig fehl am Platze.
Trotzdem begann sie mit der Zeit, das Meer zu mögen. Ihr gefielen die unendlichen Wassermassen um sie herum. Soweit man sah, soweit sie fuhren, es kam kein Ende. Niemals kam der dünne Streifen, in dem sich Himmel und Meer trafen, näher. Es gab genug Platz, um sich in der Ewigkeit zu verlieren und um sich für einen Augenblick frei zu fühlen. Keine Häuserwand, keine Zimmerdecken versperrten ihr die Sicht auf den Himmel, keine Menschenmengen erdrückten sie. Der frische, salzige Wind strich ihr kräftig übers Gesicht und wehte den Gestank der Stadt fort. Dann glaubte sie, jeden Moment fliegen zu können, wie die Möwenschwärme, die manchmal über ihrem Schiff kreisten, um nach Essen Ausschau zu halten.
Bis jetzt hatte Ramis das Meer nur von seiner guten Seite kennen gelernt. Auf ihrer bisherigen Fahrt war nichts passiert. Ramis, die gedacht hatte, das Piratenleben bestünde nur aus Plündern und Morden, glaubte sich eines Besseren belehrt. Man hätte sich fast frei fühlen können, wenn da nicht die harte Arbeit gewesen wäre. Diese Menschen waren an keinen König gebunden, sie schienen nach ihren eigenen Gesetzen zu leben. Dennoch entging Ramis nicht, dass sich mit der Zeit Unruhe unter den Piraten breit machte. Man musste die Essens- und Wasserrationen genauer kontrollieren, um nicht alles zu verprassen. Ramis konnte nicht mehr genau sagen, wie lange sie schon auf See waren. Es schien Jahrzehnte zurückzuliegen, seit sie in Bristol auf das Schiff geflohen waren. Sie hoffte, auch die Vergangenheit dort zurückgelassen zu haben. Sie dachte immer weniger an die schrecklichen Ereignisse, die sie stets weitergetrieben hatten und ihr nie die Zeit gelassen hatten, zu verweilen. Ihre Schuld und ihre Scham schienen im Fahrwasser des Schiffes davon gespült zu werden, sie verblassten, etwas, was Ramis nie für möglich gehalten hatte. Sie begann, in der Gegenwart zu leben, zusammen mit Edward. Nachts hatte sie kaum noch Alpträume, ihr Schlaf war tief und traumlos. Fast hätte sie glücklich sein können, wenn da nicht noch etwas geblieben wäre. Sie konnte es nicht bestimmen, es gab keine Worte dafür. Was sie benennen konnte, war ihre Sehnsucht nach Martha. Außerdem gab es noch die Ungewissheit, die unsichere Zukunft. Ihre Stellung in der Mannschaft war ebenfalls so ungesichert. Ohne Bess hätte man sie nicht geduldet. Wenn der Piratin ein Unglück zustoßen sollte, wäre sie ebenso dran.
Ungefähr eine Woche später meldete der Ausguck: Schiff in Sicht! In die Mannschaft kam urplötzlich Bewegung. Ein reges Treiben
Weitere Kostenlose Bücher