Dunkle Häfen - Band 1
und sie spürte den Muskelkater vom Vortag sehr deutlich. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht zu jammern. Sie musste auch noch erkennen, dass jeder dieser Männer das Segelflicken besser beherrschte als sie. Es war demütigend und noch mehr entmutigend. Deshalb war sie sehr erleichtert, als die Ablösung kam und andere Männer das Segelflicken übernahmen.
Ramis stahl sich davon, bevor Thomas sie zu weiteren Arbeiten einteilen konnte. Sicher würde er sich das Unangenehmste aussuchen. Als sie an einer Strickleiter herunterkletterte und durch das seichte Wasser watete, fielen ihr die Piraten auf, die Holz aus dem Urwald über den Strand zerrten, um die Fate notdürftig wieder zusammenzubasteln. Große Kisten mit riesigen Nägeln standen herum. Unter Umständen würden sie die Fate sogar an Land ziehen müssen, um sie zu reparieren. Das Holz war in keinem so guten Zustand und brauchte dringend eine neue Politur. Diese bestand aus Talg und sollte das Holz gegen Alterung und Holzwürmer zu schützen, die es unbrauchbar machen konnten. Es war jedoch eine beschwerliche Arbeit und dazu nicht ungefährlich, denn wenn das Schiff erst an Land war, dauerte es lange, bis man wieder im Wasser hatte. Wenn einen dann die Piratenjäger aufspürten, war man ihnen völlig ausgeliefert. Bess hoffte, das umgehen zu können und das Schiff zuerst richtig reparieren und danach abdichten – in der Seemannsprache kalfatern – zu lassen. Dazu würden sie einen richtigen Hafen ansteuern müssen. Ihre weiteren Pläne hatte sie noch nicht verlauten lassen.
Ramis dachte daran, wie klar das Wasser hier sein musste, wenn es nicht gerade gestürmt hatte. Jetzt war es freilich schmutzig und lauter Pflanzenteile verdunkelten es. Dennoch ließ die Sonne die Insel freundlich wirken. Das Licht war hier so hell und warm. Ramis schwitzte unter der Sonne. Gerne hätte sie sich das Gesicht abgespült, aber das Wasser zu ihren Füßen lud nicht dazu ein. Ihre Beine waren mit braunem Schlamm bedeckt, als sie an den Strand watete. Der Sand war an den Stellen, wo er bereits trocken war, brennend heiß, wie Ramis am eigenen Leib erfahren musste. Wenn sie nicht aufpasste, hatte sie bald Brandblasen an den Füßen. Im Wald war der Boden gleich viel kühler. Erleichtert bohrte Ramis ihre Füße in den feuchten Sand. Dann blickte sie zu den hohen Baumkronen auf. Sie verstand gut, weshalb man diesen Erdteil die 'Neue Welt' nannte. Sie konnte sich nicht recht mit der Fremdheit abfinden, die sie hier vorfand. Das Dickicht schien undurchdringlich und einen Moment fand sie es beinahe abstoßend. Sie konnte diese Regung jedoch nicht erklären, es war einfach so ein Gefühl... Ramis schob sich in das Dunkel des Urwaldes. Dort war es überraschend feucht. Sie kam sich wie einer der alten Entdecker vor, die vor zwei Jahrhunderten diese Welt erforscht hatten. Als Ramis sich umblickte und das Schiff sah, das ihr neues Zuhause darstellte, ergriff die Fremdheit, die sie die ganze Zeit verspürte, auch ihr Inneres. Noch immer konnte sie ihr neues Leben nicht vollständig begreifen. Da war eine Schranke in ihr, die ihr verbot, es als etwas anderes als selbstverständlich zu sehen. Aber wie konnte dieses Leben selbstverständlich sein?
Das Meer glitzerte weiter draußen unwirklich in der Sonne, wie Millionen von Diamanten, denen die Menschen so gerne nachjagten. Das Meer, das ein unberechenbarer Freund war. Vielleicht war es auch niemandes Freund. Und dennoch verloren so viele ihr Herz an es und begaben sich in die Hände dieser Naturgewalt, der es gleich war, wessen Schiff in ihren Wogen wie eine Eierschale zerbrach. Die Sehnsucht nach der See und ihrer grenzenlosen Weite ließ die meisten Seemänner nie wieder los. Ramis stieg über umgestürzte Baumstämme und Steine hinweg. Bald hörte sie das Murmeln eines kleinen Bach es und als sie dem Lauf folgte, stieß sie auf eine Felsquelle, aus der klares, kühles Quellwasser hervorkam und sich in einem tiefen Steinbecken sammelte. Es war Süßwasser, wie sie zufrieden feststellte. Sie kniete nieder und schöpfte das frische Nass. Gierig nach den Tagen voller fauligem Trinkwasser trank sie in großen Zügen. Sie schleuderte es sich in ihr salziges Gesicht und tauchte schließlich ihren ganzen Kopf hinein. Nach einigem Zögern legte sie ihre Kleider ab und watete bis über die Hüfte in das kalte Wasser. Trotz ihrer Gänsehaut war es erquickend wie ein Jungbrunnen. Sie wusch die ganze Klebrigkeit von ihrer Haut, schöpfte
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