Dunkle Häfen - Band 1
was?"
Ramis schloss die Augen, als sie der Schmerz unerwartet tief traf. Die Wirklichkeit war grausamer und makaberer als jede dieser bösartigen Geschichten.
"Und was wollt Ihr jetzt tun? Mich an sie ausliefern?"
"Wie kommst du darauf? Denkst du, ein Pirat spielt der Krone so in die Hände? Das wäre doch idiotisch, da du uns alle kennst! Wir haben alle so einiges auf dem Buckel und zeigen uns trotzdem nicht gegenseitig an. Ich wollte nur sehen, ob meine Vermutung stimmt. Ich habe die Geschichte schon vor einer Weile gehört. In Bristol übrigens. Bis sie dahin gelangt war, hatte sie bestimmt einige Veränderungen mitgemacht. Aber du hattest Glück, nicht geschnappt worden zu sein. Ramis ist ein seltener Name."
"Woher wusstet Ihr, dass ich mich damals Ramis genannt habe?" , fragte Ramis mit rauer Stimme.
Sie zitterte, als ihr klar wurde, in welcher direkten Gefahr sie geschwebt hatte, als sie sich im Bordell so naiv zu erkennen gegeben hatte. Sie hatte geglaubt, London wäre weit weg. Aber die Welt war manchmal viel kleiner, als es schien.
"Ich kannte eine Frau aus dem Goldenen Drachen . Sie erwähnte einmal eine Ramis. Die Zusammenhänge mit dir wurden mir erst klar, als Edward dich so nannte."
Ramis schlug die Hände vors Gesicht. Dann wusste Bess also auch von ihrer zweiten Schuld?
"Sie ist tot!" , brachte Ramis erstickt hervor und sprang auf.
Bess nickte.
"Ich we iß", sagte sie, ohne irgendwelche Andeutungen zu machen.
Vielleicht wusste sie wenigstens das nicht. Das Schlimmste war ihr sowieso schon bekannt. Ramis fühlte sich entblößt, alle ihre hässlichen Geheimnisse schienen offen ausgebreitet dazuliegen und Ramis musste sie wieder einmal in all ihrer ungeheuerlichen Scheußlichkeit sehen.
"Wo bleibt Eure Abscheu?" , zischte sie plötzlich. "Glaubt Ihr etwa nicht den Gerüchten? Es heißt, überall stecke ein Funke Wahrheit. Wie wollt Ihr wissen, dass ich nicht das Monster bin, das sie aus mir gemacht haben? Seht Ihr nicht das Blut an meinen Händen, das sich niemals abwaschen lässt? Ich bin schlecht!"
Ramis wirbelte herum und stolperte davon, die Hände vor dem Gesicht. Sie strauchelte einen Moment, als sie über eine Unebenheit im Boden fiel, bevor sie hinter ein paar Bäumen verschwand. Bess sah ihr überrascht nach. Sie hatte sich gefragt, wie die junge Frau fähig sein sollte, eine so schreckliche Tat zu begehen, wie Bess gehört hatte. Natürlich glaubte sie dem Klatsch nicht, doch angesichts Ramis Reaktion, wie viel war davon wahr? Man hatte von Ereignissen in dem Haus gemunkelt, die man in der Öffentlichkeit verschwieg. Ramis würde nie davon erzählen, doch in ihrem Schweigen lag eine Furcht, die genug sagte. Ihre unzugängliche Art erzählte eine eigene Geschichte.
Schwerfällig setzte sich die Fate in Bewegung, als der Wind in die Segel fuhr. Das Schiff war wieder soweit hergestellt, dass es den Weg zum Hafen, den Bess anzusteuern gedachte, schaffen würde. Falls ihnen nichts dazwischenkam. Durch den Sturm waren sie weit von ihrem Kurs abgekommen, deshalb musste Bess ihre Pläne ändern. Ursprünglich, so erfuhr Ramis nun, hatte Bess mit dem Gedanken gespielt, mit einigen anderen Piraten nach Afrika zu segeln, um dort eine Ladung Sklaven aufzunehmen, die sie auf die Westindischen Inseln bringen wollten. Damit verdiente man immer noch ordentlich Geld. Ramis hörte, wie sie über die Sklaven sprachen wie Ware, nicht wie über fühlende Lebewesen.
Das kommt daher, dass sie nicht wissen, wie es ist, nicht als Mensch angesehen zu werden. Keiner denkt daran, was es bedeutet, vollkommen rechtlos und ohne eine Meinung, die jemand zur Kenntnis nimmt, zu sein.
In den Gesichtern der Piraten war keine besondere Regung, während sie über den ins Wasser gefallenen Coup sprachen. Ramis überlegte, dass Gleichgültigkeit manchmal nicht besser war als schiere Grausamkeit. Sie lagen oft sehr dicht zusammen. Im Grunde genommen war ihre Vorstellung von diesen fremden schwarzen Menschen sehr unvollständig, doch Ramis erinnerte sich an Bristol, als sie einige davon gesehen hatte. Und sie hatten gelitten, wie nur fühlende Wesen es konnten.
Ramis Zorn auf Bess, den diese mit ihrer Entdeckung der Wahrheit über Ramis geweckt hatte, wuchs nur noch mehr. Es war töricht von ihr gewesen zu glauben, dass Bess ein Herz besitzen könnte. Ein Pirat kannte kein Erbarmen. Sie benahm sich von nun an sehr distanziert gegenüber Bess und bei den Übungsstunden bedrängte sie den 'Käpt'n' mit ihrem alten
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