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Dunkle Häfen - Band 1

Dunkle Häfen - Band 1

Titel: Dunkle Häfen - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elin Hirvi
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Ein Mann las aus einer zerfledderten Bibel vor. Verstohlen wischten sich mehrere Männer Tränen aus den Augenwinkeln. Ramis dagegen konnte nicht weinen, sie fühlte sich leer und ausgebrannt, als stände eine andere hier und sähe zu, wie Bess Leichnam dem Meer übergeben wurde. Die Männer riefen Worte der Ehrerbietung und schossen in die Luft, als das Bündel auf die Oberfläche klatschte und langsam zu sinken begann. Sie hatten Bess alle bewundert und auch geliebt. Es wühlte sie auf, zu sehen, wie ihr Käpt'n in der Tiefe verschwand und sie für immer verließ. Bess sollte nun für immer in ihrem geliebten Meer ruhen.
    "Das Meer hat mir schon vor langer Zeit die Seele genommen", hatte Bess einmal zu Ramis gesagt. Nun waren sie vereint.
    Ramis hatte das Gefühl eines unsagbaren Verlustes, den sie nicht ausdrücken konnte. Nie hatte sie geglaubt, dass Bess ihr so viel bedeuten könnte. Sie saß wie auf Kohlen und konnte nirgends verharren. So wanderte sie über Deck. Schließlich jedoch legte sich ihr eine kräftige Hand auf die Schulter und hielt sie fest. Sie blickte in Andrew Thomas Gesicht. Dunkle Ringe waren unter den starren Augen, wie bei ihnen allen. Ramis hatte gehofft, dass es nicht so bald geschehen würde. Sie hatte gehofft, noch ein wenig Zeit zu haben. Aber Thomas wollte sie natürlich schnell loswerden, je schneller desto besser. Hinter ihm stand schon die gesamte Mannschaft, um das Urteil zu vollstrecken. Ramis würde sie bitten, Edward am Leben zu lassen.
    "Bess hat ein Testament hinterlassen", sagte Thomas.
    Musste er es so lange hinauszögern? Konnte er nicht einfach sagen, dass er jetzt Kapitän war und sie töten wollte?
    "Sie ernennt darin einen neuen Kapitän. Dazu hatte sie das Recht..."
    Es irritierte sie, dass er so zornig klang. Er hatte doch allen Grund zur Freude.
    "Sie wollte, dass du neuer Kapitän wirst."
    Ramis glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Es musste sich um ein Versehen handeln.
    Thomas las jedoch weiter vor:
    "Hiermit verfüge ich, dass mein Rang und all mein Besitz in die Hände des Matrosen Anne übergehen sollen. Ich habe volles Vertrauen in ihre Fähigkeiten und Kenntnisse und möchte, dass mein letzter Wille getreulich ausgeführt wird."
    Die Stimme, die dies vortrug, troff vor Verachtung und Wut, doch es musste für Thomas sprechen, dass er dieses Dokument nicht verbrannt hatte.
    Das Gesagte plätscherte an Ramis vorbei, ohne dass sie es aufnehmen konnte. Erst ganz langsam drang es in ihr Bewusstsein vor und selbst dann war es wie eine Explosion. Voller Unglauben schüttelte Ramis den Kopf und suchte nach dem Irrtum.
    "Nimmst du den Rang an?" Thomas war zornig, doch er akzeptierte Bess Beschluss.
    Bess musste wirklich sehr hoch in aller Achtung gestanden haben, damit sogar Piraten ihr die Treue bis über ihren Tod hinaus hielten.
    Führe mein Werk weiter! Wirst du das tun?
    Ramis hatte es versprochen. Nun verstand sie, was damit gemeint war. Bess musste den Verstand verloren haben. Ramis wägte ihr Versprechen gegen das Wohl ihrer aller ab. Aber Versprechen gegenüber Toten waren heilig.
    "Ja ", murmelte sie leise.
    "Was?"
    "Ja!" , schrie sie.
    "Dann bist du von jetzt an unser Kapitän. Unser Schicksal liegt in deinen Händen."
    Diesen feierlichen Worten stand der offene Hohn gegenüber. Thomas wusste, wie wenig sie zum Kapitän geeignet war. Was sich Bess wohl dabei gedacht hatte? Das, was sie Ramis in der kurzen Zeit beigebracht hatte, würde doch niemals reichen, oder? Zögernd und sichtlich zweifelnd neigte die Mannschaft ihre Köpfe als Anerkennung. Ramis hatte das Gefühl, ins kalte Wasser getaucht zu werden. Ihr war, als hätte man sie soeben zur Königin gekrönt, ohne dass sie das Geringste davon verstand. Dieser Wahnsinn musste sie alle ins Unglück stürzen.
    "Deine Befehle, Kapitän ?" Die Betonung auf dem Kapitän zweifelte ihr Recht an diesem Rang an.
    Ramis wachte aus ihrem lähmenden Entsetzen auf.
    "Nach Barbados!" , verkündete sie.
     
    Ramis hatte Recht behalten, als sie gedacht hatte, dass sie nach diesem verhängnisvollen Kampf nicht mehr dieselbe sein würde. Jetzt war sie Kapitän. Kapitän, was für ein seltsames Wort. Es bedeutete, dass sie die Verantwortung für eine Meute Piraten trug, die sie nicht mochten. Nach einigem Sträuben war Ramis schließlich in Bess Kajüte eingezogen. Sie nahm Edward mit sich, in dem breiten Bett war Platz genug für zwei. Immer, wenn sie den Raum betra t, erwartete sie, Bess am Tisch sitzen zu sehen, vor

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