Dunkle Häfen - Band 1
sich eine Karte oder das Schachbrett. Dann wusste sie, dass sie kein Recht hatte, hier zu sein. Als sie Bess Besitztümer durchsah, fand sie jedoch einen Brief, der an sie selbst gerichtet war. Er lag in Bess Logbuch.
Ramis,
wenn du das liest, werde ich tot sein. So oder ähnlich beginnen die meisten Abschiedsbriefe. Ich habe dir jedoch noch etwas zu sagen, das im Leben keinen Platz hatte. Als Pirat konnte ich mir nie Gefühle leisten. Es kommt mir komisch vor, einen Brief zu schreiben, als wäre ich schon tot. Der Tod ist so nahe bei uns und doch sind wir überrascht, wenn er kommt. Was ich dir mitteilen wollte, ist Folgendes: Ich hoffe, Thomas hat meine Anordnung befolgt und du bist Kapitän. Sicher erschreckt es dich, doch ich verfolge damit ein Ziel. Zum einen wollte ich dein Leben sichern, denn unter einem anderen Kapitän wäre für dich keinen Platz. Und zum anderen habe ich auf meine alten Tage sentimentale Gefühle bekommen. Du hast mich an mich selbst erinnert, damals, in meiner Ehe. Auch ich hatte große Angst vor der Zukunft und ich wagte dennoch den Schritt. Ich will, dass du das Gleiche tust. Du sollst eine unabhängige Frau sein, meine Erbin und auch die Tochter, die ich nie hatte. Ja, ich gestehe es mir ein, ein Teil von mir wünschte sich immer eine. Doch zwischen Piraten ist kein Platz für eine Mutter. Ihre Achtung hängt davon ab, dass sie in dir keine Frau sehen, das solltest du dir merken. Weiblichkeit verwirrt sie nur und sie alle haben gelernt, in der Frau etwas Schwaches zu sehen. Du sollst ihnen das Gegenteil beweisen. Ich weiß, du kannst nie ein Mannweib sein wie ich. Sei eine Frau und binde ihnen das dennoch nicht auf die Nase. Das ist eigentlich alles. Ich war nie eine große Briefschreiberin und doch liegt ein ellenlanger vor dir. Ich könnte sagen, ich spüre den Tod. Vielleicht ist das so. Weißt du noch, was die Alte in Barbados gesagt hat? Sie sagte, ich hätte meinen Frieden gefunden. Das habe ich. Vergiss auch du nicht, deine Stärke ist in dir, gib nicht auf, sie zu suchen. Weißt du, wie sehr du mich überrascht hast, als du uns allen bewiesen hast, wie widerstandsfähig du sein kannst? Ich war fast stolz auf dich...
Behalte mich in guter Erinnerung trotz dieses sentimentalen Briefes.
In Liebe
Bess
Ramis fühlte die lange in sich verschlossenen Tränen in sich aufsteigen, als sie den Brief zu Ende las. Bess Handschrift war sehr krakelig und viele Rechtschreibfehler schmückten den Brief, denn Bess hatte nie eine Schulbildung gehabt. Was sie wusste, hatte sie sich selbst beigebracht. Tochter. Ramis hatte nie geahnt, wie tief Bess Gefühle gingen. Sie empfand einen ungeheuren Verlust über etwas, das nie passieren durfte. Tochter. Das Wort breitete sich in ihrem Mund aus und erfüllte ihr ganzes Denken. Ramis kostete es aus, doch es war zu spät. Zu spät für die Erkenntnis, zu spät, um Tochter zu sein. Sie weinte bittere Tränen.
Bridgetown sah genauso aus wie bei ihrer ersten Ankunft und dennoch war alles anders. Doch es war nicht die Stadt, die sich geändert hatte. Die Fate ging am Hafen vor Anker. Schweigend tat man alles Nötige, um dann an Land zu gehen. Ramis ließ die Männer ziehen, sie brauchten ihre Zerstreuung, keiner hätte sie daran hindern können. Außer Edward nahm Ramis niemand auf ihre schwere Mission mit. Den Jungen hätte sie auch dagelassen, doch sie fürchtete, dass die anderen ihn zu schrecklichen Dingen verleiten könnten. Ohne miteinander zu reden, trotteten sie die staubige Landstraße entlang. Edward spürte, dass Ramis lieber nicht reden wollte. Er konnte die schwermütigen Gedanken an ihren Augen ablesen, die einen tristen Grauton angenommen hatten, wie ein regnerischer Himmel. Ramis beachtete die Landschaft um sie herum kaum. In ihrer Erinnerung ging Bess neben ihr her und Ramis ärgerte sich über ihre Ansichten. Jetzt schien alles sinnlos. Der Pförtner war nicht am Tor. Auf ihr Klopfen antwortete niemand.
"He! Ist hier jemand?" , rief sie laut.
Es dauerte eine Weile, bis schließlich eine stämmige Matrone in einem weißen Kleid herausschaute.
"Was wollt ihr?" , fragte sie unwirsch durchs Tor.
"Ich muss Mr. Seymoor sprechen. Dringend."
"Er ist nicht da!" Die Frau tat, als gäbe sie ein Geheimnis bekannt, sie klang sehr missbilligend.
"Wo ist er?"
"Na hör mal! Er hat mir keine Rechenschaft abzulegen, wohin er geht! So eine wie ich fragt die Herrschaften nicht."
"Wisst Ihr wenigstens, wann er wiederkommt?"
Ramis
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