Dunkle Häfen - Band 1
den Titel. 'Arzneien in jeder Lebenslage'. Schon die verschnörkelte Titelseite stieß sie ab. Martha kehrte wieder zu der aufgeschlagenen Seite zurück. Die Schrift war schon sehr undeutlich geworden. Aber sie konnte mehrere Anleitungen zur Herstellung vermeintlicher Medizin entziffern. Dieses Buch war eine einzige, gefährliche Lüge! Es gab hier sogar ein Mittel gegen die Pest. Gleich darauf gewahrte Martha ein weiteres Rezept: Wollt Ihr ein Kind abtreiben, so nehmt... Eine dicke Träne klatschte auf die Schrift und verwischte sie. Plötzlich wurde Martha unglaublich wütend und sie schleuderte den wertvollen Band aus der Bibliothek, der schon mehrere Jahrhunderte auf dem staubigen Buckel hatte, gegen die Wand.
"Ihr elenden Kerle!" , schrie sie außer sich. "Ihr habt mein Kind zerstört!"
Dann sank sie kraftlos in sich zusammen und weinte.
Ramis lag wohl im Sterben. So genau konnte das allerdings keiner sagen, weil keiner eine Ahnung von Medizin hatte. Ironischerweise schien das Gift dem Baby nichts getan zu haben, auf jeden Fall blieb es in ihrem Leib.
Martha war sich sicher, dass Ramis es nicht überlebt hätte, wenn sich nicht noch jemand eingemischt hätte. Sie saß immer neben dem Bett der Kranken und hielt eine Schüssel, in der Wasser war, damit sie Ramis das Gesicht waschen konnte. Inzwischen würgte Ramis nur noch Blut hervor. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis es zu Ende ging.
Martha wechselte gerade die Bettdecke, als jemand durch die neu eingesetzte Tür hereinkam. Erstaunlicherweise hatte keiner über die Sachbeschädigung ein Wort verloren. Herein kam ein streng in schwarz gekleideter Mann mit einer furchtbar ernsten Miene. Er trug eine große Ledertasche bei sich.
"Kann ich Euch helfen?" , erkundigte Martha sich. Seine Augen schweiften durch das Zimmer und richteten sich schließlich auf sie, als er außer ihr und dem Mädchen niemand mehr entdecken konnte.
"Ich soll hier ein Mädchen behandeln. Ich nehme an, das ist sie?" Er deutete mit einer vagen Handbewegung in Richtung Bett.
"Was? Ja...aber ich habe nichts um Euch bezahlen!"
"Das wurde schon erledigt, sonst wäre ich gar nicht da."
Sein Hochmut ärgerte sie, doch sie biss sich auf die Zunge.
"Ich bin nur auf Befehl von Sir Edward hier", versicherte er ihr noch einmal.
Sir Edward? Welches Interesse hatte denn gerade er, dass Ramis wieder genas? Schließlich war er erst Schuld an dem Unglück. Martha konnte sich jedoch schon die Gründe denken und selbstlos waren diese ganz bestimmt nicht. Ein Mensch wie er kannte keine Moral.
Im Blick des Arztes lag Verachtung für diese ärmlichen Diener, mit denen er sich abgeben musste. Er, einer der meistgefragtesten Ärzte Londons, der sonst nur in der Aristokratie verkehrte, sollte Diener behandeln? Das empörte ihn zutiefst, aber den Anweisungen eines Sir Edward folgte man besser. Was für Veränderungen das Bürgertum auch prophezeite, die Macht des Adels war noch ungebrochen und mit mächtigen Leuten wie Sir Edward legte man sich sowieso nicht an. Der Arzt hatte schon gehört, was denjenigen geschah, die diesem Mann im Weg standen. Ja, vor ein paar Jahren hätte es beinahe einen Skandal gegeben wegen so einer Sache... Allerdings stand der König damals wie heute auf der Seite von Sir Edward und seinen Verbündeten, deshalb geschah gar nichts. Der Arzt haderte mit seinem Schicksal, weil er aus einer gewöhnlichen Handwerkerfamilie stammte und ihm die höheren Weihen versagt blieben. Daher zwang er sich zu diesem Besuch, der so weit unter seiner Würde lag.
"Was fehlt ihr?" , fragte er barsch.
"Sie hat Gift geschluckt."
Die ältliche Frau vor ihm rang nervös die Hände, was ihn ungemein störte.
" Kann Sie mir die Bestandteile beschreiben? Und höre Sie gefälligst mit diesem Gefuchtel auf!"
Martha nickte und hob das zerfledderte Buch auf, das noch immer an der Wand lag. Sie suchte die betreffende Seite heraus. Ihre Hand zitterte. Der Mann beugte sich über das Buch.
"Sie war schwanger?" Er zog missbilligend die Augenbrauen hoch.
"Sie ist es noch. Ich denke, dem Kind ist nichts passiert." Martha rang schon wieder die Hände und blickte zum Bett hinüber. Dort rührte sich weiterhin nichts.
Der Doktor folgte ihrem Blick und trat zu dem Mädchen. Sie sah sehr jung aus und sehr scheu. Die Patientin machte wirklich nicht den Eindruck, als werfe sie sich den Männern an den Hals. Ihm wurde so einiges klar. Sir Edward war ein alter Lump. Der Arzt hatte selbst schon vielen Damen
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