Dunkle Häfen - Band 1
Menschengruppe, der sie angehörte. Keine andere Sache hätte ihr besser klar machen können, was ein entwurzeltes Geschöpf war, als diese Distanz zu den Menschen. Ihre Wurzeln waren ihr abgerissen worden und im Dunkel verschwunden. Niemand wollte sie auf seinem Territorium neue Wurzeln schlagen lassen. Die Frauen ließen Ramis keinen rechten Zugang zu ihrer Gemeinschaft finden und Ramis versuchte es gar nicht erst. Sie spürte die Ablehnung, die man ihr entgegenbrachte und akzeptierte das als eine Endgültigkeit. Seit sie sich erinnern konnte, war es schon so gewesen. Wenigstens hatte es da noch Martha gegeben.
Nun glaubte sie, sie würde völlig vereinsamen, aber bald wurde Edward zu ihrer ständigen Gesellschaft. Er begleitete sie täglich zu Liams Stand. Liam wurde auch zu einem guten Freund. Er stammte eigentlich aus Irland und liebte dieses Land über alles. Aber weil es dort keine Arbeit mehr gab, hatte er nach England gehen müssen, um sich zu ernähren. Seine Familie war in Irland geblieben, denn seine Frau konnte sich nicht vorstellen, ihre kleine Gemeinde, in der sie aufgewachsen war, zu verlassen und nach England zu ziehen, ein Land, das sie hasste. So ging Liam schweren Herzens allein und schickte ihnen jeden Monat Geld. Es schmerzte ihn, seine Kinder nicht aufwachsen zu sehen. So erzählte er zwei anderen jungen Leuten die Geschichten seiner Heimat, nach der er so Heimweh hatte. Ramis und Edward lauschten in arbeitsfreien Zeiten und ließen sich von den uralten Legenden bezaubern. Darin wimmelte es von Zauberwesen wie Feen und Göttern, die den ewigen Kampf des Guten gegen das Böse austrugen. Liam schilderte ihnen aber auch die Schönheit der Insel, die grünen Wiesen und die kleinen Hügel, auf denen Schafe weideten. Es gab kaum große Städte, nur viele kleine Dörfer und alte Festungen aus einer Zeit, als dort noch unabhängige, wilde Fürsten lebten.
"Ihr könnt euch das nicht vorstellen, wenn ihr nur die Stadt kennt. In der Einsamkeit der unbesiedelten Landstriche findet man noch zu sich selbst. Aber nur davon kann man nicht leben. Luft kann man nicht essen."
Liam erklärte ihnen, dass Irland nicht das unzivilisierte, gesetzlose Land sei, als das es in England im Allgemeinen angesehen würde. Auch die Menschen dort seien einst unabhängig und stolz gewesen, bis sie besiegt wurden.
"Kein Wunder, dass wir einen solchen Groll gegen England hegen. Aber", so fügte er mit einem Lächeln in ihre Richtung hinzu, "ich gehöre nicht zu denen, die deshalb Unschuldige verantwortlich machen. Schließlich verdiene ich hier mein Geld - und auf meine Kunden und Freunde habe ich keinen Grund, böse zu sein."
Ramis bewunderte Liam für die Kraft, mit der er sein Leben gestaltete. Sie selbst fühlte sich immer noch wie ein Stück Treibgut, das willenlos in der Strömung mit trieb.
Allmählich kehrte eine Art von Alltag in ihr Leben ein. Sie hielt sich möglichst außerhalb des Freudenhauses auf. Erst wenn es dunkel zu werden drohte und der Markt sich aufgelöst hatte, kehrte sie zurück. Bevor die Straßen gefährlich wurden. Dann nähte sie noch bis in die Nacht Kleider. Wenn sie endlich im Bett war, zog sie sich die Decke über den Kopf, um nicht die Geräusche von unten zu hören zu müssen. Es machte sie krank. Ganz früh am Morgen ging sie oft mit Edward zum Hafen und sie schauten sich die Schiffe an. Nur die Wachposten blickten ihnen schläfrig entgegen, achteten aber nicht weiter auf die Frau und das Kind.
Einmal hatte Ramis gesehen, wie man dort die Sklaven von einem Schiff auf ein anderes lud. Sie erschrak vor den dunkelhäutigen Menschen, denn sie waren ihr fremd. Sie trugen kaum Kleidung und waren in Ketten gelegt. Anscheinend hatten sie wenig zu Essen und Trinken bekommen, denn sie waren ausgemergelt und sahen sehr krank aus. Müde stolperten sie dahin. Am meisten aber entsetzten Ramis ihre stumpfen Augen. Wohin sie auch gingen, viele von ihnen würden sterben müssen und es würde keinen kümmern. Edward sagte, man brächte sie nach Amerika, damit sie dort auf riesigen Bauernhöfen arbeiteten. Ramis hatte keine Ahnung von diesem fernen Land und sie konnte sich auch die 'Bauernhöfe' schlecht vorstellen. Auf jeden Fall war es unmenschlich, Lebewesen wie eine Ware in einen Frachtraum zu stapeln. Es waren doch viel zu viele Menschen für so ein Schiff! Die Art, wie man die Sklaven behandelte, zeigte Ramis einmal mehr, wie schlecht die Menschen waren und wie gleichgültig gegenüber dem Leid
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