Dunkle Häfen - Band 2
Kreischen eines Mädchens, das ich selbst bin... Sie werden vor meinen Augen abgeschlachtet, ich sehe einen Kopf fallen... Grauen, nichts mehr als nacktes Grauen. Das Mädchen kriecht wimmernd unter den Wagen. Die Mörder sind abgelenkt - sie sind mit seinen Eltern beschäftigt. Und so rennt es los, vom kalten Entsetzen getrieben... Jemand verfolgt sie... er bleibt im Moor zurück, sein Gewicht ist größer als das ihre. Nicht einmal der Tod wollte das Mädchen, obwohl es ohne Vorsicht durchs Moor rennt... Es rennt solange, bis es nach einiger Zeit am Straßenrand zusammenbricht.
Es fühlt nichts mehr, denn es ist tot... Ein Kutscher erbarmt sich schließlich des Geschöpfs, dem das Grauen die Seele zerrissen hat... Er tat damit niemand em einen Gefallen, denn das Kind kam nach London, wo die unselige Geschichte der Ramis beginnt...
Deshalb konnte sie auch nichts anderes tun, als alle zu verraten, denn Ramis war auf dem schrecklichsten Verrat gegründet worden.
"Ich habe meine Eltern verraten!" Ihre Stimme brach. "Darf denn so ein Kind weiterleben? Ich habe die verraten, die ich lieben wollte! Ich muss ein Wechselbalg sein, das man meinen Eltern in die Wiege gelegt hat! Von Geburt an dem Unglück geweiht..."
"Wie kommt Ihr denn darauf? Bestimmt ist es nicht Eure Schuld, dass man Euch überfallen hat! Und fühlt Euch nicht schuldig, dass Ihr noch lebt! Gewiss war es der größte Wunsch Eurer Eltern, wichtiger als ihr eigenes Leben!"
Er blickte in ihre merkwürdig geweiteten Augen.
"Ich bin schmutzig und verdorben..." , flüsterte sie. "Tief in meinem Inneren lauert es und es wartet... auf eine Gelegenheit wie diese... Komm her zu mir, mein kleiner Freund!"
Wie elektrisiert starrte er sie an, als sie sich noch weiter zurücklehnte und ihre Beine anzog. Sie schien eine Fremde zu sein, er konnte Anne nicht mehr in dieser Frau erkennen. War sie denn eine dieser zerrissenen Seelen, die so viele Gesichter tragen können? In diesem Gesicht war nichts Gutes zu lesen, doch er konnte sich nicht gegen ihre Anziehungskraft wehren. Er berührte ihre kalte und zugleich fieberglühende Haut und versank in einem Taumel. Ihre Nähe brachte ihn um die Beherrschung und er legte sich zu ihr. Fast fürchtete er die unheimliche Aura, die sie umgab, die Fremdheit. Ihre Lippen bewegten sich wie bei Beschwörungen. Dann war es um ihn vorbei.
"Oh, mein e... meine Göttin!" rief er heiser aus, als er ihren nackten Leib sah.
Seine Finger verehrten ihn wie nie zuvor und fanden eine heftige Reaktion, als er auf sie kam. Ihre Körper bewegten sich abgehackt, während ihre Geister in ihrer eigenen Absurdität gefangen waren. Und draußen war es stockduster, dicke Sturmwolken verbargen den Mond.
Am nächsten Tag kam das böse Erwachen. Der Marquis schreckte als erster auf. Als sich die Erinnerung einstellte, sprang er von Entsetzen geschüttelt auf. Sie hatten etwas Unverzeihliches getan! Wie hatte er sich nur so gehen lassen können? Es war seine Schuld! Schließlich hatte er diesen Trank angeschleppt, der offenbar nicht die beabsichtigte Wirkung gehabt, sondern zusammen mit dem vorhergehenden Schock eine gefährliche Mischung abgegeben hatte. Die Frau, die er gestern Nacht erlebt hatte, war eine Verzerrung und eine Illusion des Rausches gewesen. Anne würde er nie wieder in die Augen sehen können. Was war er für ein Mensch, der eine solche Situation ausnützte? Dabei hatte er den Himmel in Erinnerung... Doch Anne würde das nicht so sehen. Trotz dieser Überlegungen besann er sich auf das Nächstliegende und zog sich rasch an. Als er damit fertig war, räumte er die herumliegenden Kleider auf und deckte die schlafende Herzogin sorgfältig zu. Danach floh er aus dem Zimmer.
Ramis Kopf schmerzte. Das war das erste, was sie feststellte. Mit einem Ächzen setzte sie sich auf. Alles war schwer und zudem war sie nackt. Wirre Bilder des vergangenen Abends zogen an ihr vorüber. Es war alles viel zu viel gewesen und auch jetzt überwältigte es sie wieder. Seit gestern war sie zwangsläufig eine andere, da ihr Selbstverständnis rettungslos erschüttert war. Sie fürchtete sich auf einmal, Colin wiederzusehen, denn das Mädchen, das er gekannt hatte, gab es nicht mehr. Und auch den Marquis wollte sie nicht sehen. Aber über allem stand die unsägliche Trauer, die sie nie verwunden hatte. Sie trauerte um ihre Eltern, aber auch um das kleine Mädchen Lianna, das nie erwachsen geworden war. Ramis wusste nicht einmal mehr, wie Lianna
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