Dunkle Häfen - Band 2
sich.
"Bitte, lasst mich allein!" , forderte ihn auf. "Ich musste erkennen, was ich nie wissen wollte: Mein Leben ist eine einzige Lüge gewesen. Ihr könnt mir im Moment nicht helfen."
Er ließ sie sehr ungern allein, aber es war ihr Wunsch.
"Ich werde Euch eine Tasse mit Tee bring en", schlug er vor. "Es wird Eure Nerven beruhigen."
Als er gegangen war, verbarg sie das Gesicht in ihren Armen. All die Jahre hatte Ramis sich unbewusst an diese Lianna geklammert und geglaubt, wenn sie ihren Namen wiederfinden würde, würde alles gut werden. Doch auch das war ein Trugschluss gewesen. Lianna war tot, von innen ausgehöhlt. Schlimmer noch, sie war eine Fremde geworden. Und sie wollte jetzt auch Ramis mit sich reißen. Ja, nun kannte sie ihren wahren Namen und ihre Herkunft, aber es half ihr nichts, denn die Jahre hatten alles entfremdet. Zu lange hatte sie nach ihrer Identität und ihrer Herkunft gesucht, so lange, bis es ihr in Fleisch und Blut übergangen war und sie nicht mehr aufhören konnte zu suchen, auch wenn sie nie finden würde. Die Wahrheit war hohl geworden und ließ sich nicht mehr verinnerlichen. Lianna gab es nicht mehr, aber konnte Ramis leben, da sie doch auf einem Hohlraum errichtet wurde? Wurzellose müssen sterben. Auch wenn abgepflückte Blumen in der Vase noch einmal aufblühen, so ist es ihr Schicksal zu welken.
Und auch eine weitere irrige Hoffnung, an der Ramis sich all die Jahre festgeklammert hatte, war mit der Wahrheit zerbrochen. Sie hatte nie ihren Traum aufgeben wollen, dass ihre Eltern noch lebten und sie wiederfinden würden. Dann würde sie ihre verlorene Kindheit wieder aufleben lassen. Ramis sah nicht auf, als der Marquis zurückkehrte. Er drückte ihr eine warme Tasse in die Hand. Wie eine Medizin leerte Ramis sie rasch und verzog leicht das Gesicht wegen des bitteren Geschmacks. Bald darauf breitete sich Wärme in ihrem Körper aus.
"Ich habe Euch angelogen, die ganze Zeit", sagte sie dem Marquis. "Nichts, von dem, was ich erzählt habe, stimmt. Als Ihr mich im Meer gefunden habt, war ich auf dem Weg zu meiner Hinrichtung. Meine Zeit schien noch nicht reif gewesen zu sein, vielleicht musste ich mich erst allem stellen. Davor..."
Ramis fand, dass es keinen Sinn mehr hatte, den Marquis weiter anzulügen. Wenn er ihr Freund war, würde er schweigen, wenn nicht... Ein weiteres Mal berichtete sie von ihrem Leben, ohne jedoch die schrecklichsten Dinge zu erwähnen. Sie erzählte von Jahren der Entbehrung und des Entwurzeltseins und wie sie ihre Aufgabe als Piratenkapitän und der Erziehung zweier Kinder gefunden hatte, nur um dann wieder weggerissen zu werden. Dabei musste sie zwangsläufig auf Fayford eingehen, beließ es aber beim Nötigsten. Tröstend legte der Marquis einen Arm um Ramis. Sie allerdings hatte keine Tränen mehr für ihre Geschichte. Zu oft hatte sie sich deswegen in den Schlaf geweint.
"Von meiner Kindheit wusste ich all die Jahre nichts, nur einzelne Bruchstücke. Ich bin Irin, das habe ich nun erfahren. Aber was bedeutet das? Immer habe ich mich nach einer Heimat gesehnt, nur um jetzt zu erkennen, dass dieser Platz leer bleiben wird. Ich kenne Irland nicht und an einen Namen kann ich mich nicht mehr klammern. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, es ist zu spät..."
Der Marquis sah, dass das Beruhigungsmittel im Tee wirkte. Er hatte keine Ahnung, was die Köchin hineingetan hatte, aber Ramis wurde zusehends schläfriger, ihre Augen bekamen einen abwesenden Glanz. Sie lehnte sich in die Kissen zurück.
Es war im Sommer... Der Nebel lichtet sich bereits und gibt eine Landschaft preis. Sie ist grün wie in meinen Träumen... 'Lianna!' sagt Mutter zu mir 'Kau nicht auf deinen Haaren. Sonst brechen sie ab!' Sie ist wunderschön. Ich denke immer, so müssen die schönen Unsterblichen aus den Geschichten aussehen. Und mein Vater war der Elfenkönig. Seine Haare sind lang, schwarz und geheimnisvoll. Sie lieben mich... ich war ihr Stolz... Wir haben wie arme Bettler unser Heim verlassen. Sie sagten mir, wir wollten unsere Verwandten besuchen, aber ich spürte, etwas war nicht in Ordnung. Trotzdem freute ich mich, Colin zu sehen...
Doch dann, auf dem Weg: Maskierte Männer mit Waffen. Ihre Augen hinter den Sehschlitzen glühen grausam, sie ähneln Dämonen. Sie stürzen sich auf uns, noch ehe wir uns rühren können... Schreie... Meine Eltern kämpfen verzweifelt, versuchen, die Übermacht abzuwehren. Ich höre meine Mutter beten... Blut und Angst... Das
Weitere Kostenlose Bücher