Dunkle Herzen
daß du dich ein bißchen entspannst, deswegen werde ich dir etwas geben, damit du besser schlafen kannst.« Er bemerkte ihren widerspenstigen Blick und funkelte sie ebenso störrisch an. »Ich würde dasselbe für meine eigene Tochter tun.«
Clare seufzte ergeben. Dies war derselbe Mann, der sie einst wegen Windpocken behandelt und die erste, für sie entsetzlich peinliche Unterleibsuntersuchung durchgeführt hatte. Seine geduldige, ruhige Stimme hatte sich nicht verändert, auch seine Hände waren noch genauso behutsam wie früher. Seit Clare das letzte Mal bei ihm in Behandlung gewesen
war, hatten sich neue, tiefe Linien um seine Augen gegraben, sein Haar war dünner und er selbst dicker geworden. Sie erinnerte sich auf einmal ganz genau an die Luftballons, die er in einem Porzellanclown auf seinem Schreibtisch aufbewahrt und an brave Jungen und Mädchen verteilt hatte. »Bekomme ich denn keine Belohnung?«
Crampton kicherte, öffnete seine Tasche und reichte ihr ein paar Tabletten und einen langen roten Luftballon. »Mit deinem Gedächtnis ist jedenfalls noch alles in Ordnung.«
Clare nahm den Ballon, Symbol der Hoffnung und der Kindheit, und schloß ihre Hand darum. »Vielen Dank, daß Sie den weiten Weg bis hier heraus auf sich genommen haben, Doc. Tut mir leid, daß Cam Sie aus dem Bett geworfen hat.«
»Das war nicht das erste Mal und wird auch nicht das letzte Mal sein.« Crampton nickte ihr zu. »Du stehst unter Schock, Clare, aber ich denke, du brauchst nur etwas Ruhe, dann fühlst du dich besser. Aber laß dir einen Termin geben und halte ihn auch ein, sonst nehme ich dir den Ballon wieder weg.« Er nahm seine Tasche auf, dann wandte er sich an Cam. »Soll ich den verantwortlichen Chirurgen bitten, ab und zu nach der Patientin zu sehen?«
»Das wäre mir sehr lieb.«
Dr. Crampton winkte ab und ging mit vor Müdigkeit schleppenden Schritten davon.
»Er hat sich überhaupt nicht verändert«, meinte Clare.
Cam legte ihre Hand an seine Wange und hielt sie fest. »Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Slim.«
»Tut mir leid.«
»Bist du immer noch sauer auf mich?«
Sie rutschte unruhig auf der Liege hin und her. »Eigentlich nicht. Es ist nur etwas merkwürdig, von einem Mann verhört zu werden, mit dem man ins Bett geht.«
Er gab ihre Hand frei und trat einen Schritt zurück. »Bud kann die nachfolgenden Befragungen vornehmen, wenn dir das lieber ist.«
Sie war mal wieder im Begriff, alles zu verpatzen, dachte
Clare. Genau wie immer. »Nein. Schon gut, ich komm’ damit klar.« Sie rang sich ein künstliches Lächeln ab. »Also, was ist der nächste Schritt?«
»Ich kann dich nach Hause bringen, damit du dich richtig ausschläfst.« Das war es, was er am liebsten getan hätte.
»Oder?«
»Wenn du dich schon dazu in der Lage fühlst, könntest du mir zeigen, wo genau es passiert ist, und wir gehen die Ereignisse an Ort und Stelle noch einmal durch.« Das war es, wozu er sich verpflichtet fühlte.
Clare verspürte einen leisen Anflug von Panik, den sie jedoch entschlossen verdrängte. »Okay, wir befolgen den zweiten Vorschlag.«
»Ich fahre. Dein Auto können wir später holen.« Er wollte ihren Wagen noch einmal gründlich auf Spuren des Zusammenstoßes hin untersuchen, und der Schein der Taschenlampe reichte dazu bei weitem nicht aus.
Sie glitt von der Liege und griff nach seiner Hand. »Ich fürchte, ich hab’ meine Schlüssel im Auto steckenlassen.«
Andere Wunden waren in dieser Nacht versorgt, andere Entscheidungen getroffen worden. Die zwölf verbleibenden Kinder Satans hatten ihre Reihen geschlossen. Furcht und Zweifel hatten sich gelegt. In der nächsten Vollmondnacht würden sie wieder zusammentreffen, um die schwarze Messe abzuhalten, die Weihe zu vollziehen und ein Opfer darzubringen.
Das Opfer, welches ihnen gesandt worden war, hatte entkommen können. Nun galt es, ein neues auszuwählen.
»Genau hier war es.« Clare schloß die Augen, als Cam den Wagen an den Straßenrand lenkte. »Ich bin aus der anderen Richtung gekommen, aber hier …« Wieder hörte sie das Quietschen der Bremsen und ihren eigenen Schrei. »Hier habe ich sie angefahren.«
»Möchtest du lieber im Auto bleiben, während ich mich umsehe?«
»Nein.« Sie riß die Tür auf und sprang ins Freie.
Der Mond war verschwunden, nur ein paar Sterne verbreiteten noch schwaches Licht. Es war der dunkelste, kälteste Teil der Nacht. Gab es eine Stunde, überlegte sie, zu der der Mensch
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