Dunkle Herzen
Zeitschriften ausgeschnittene Bilder bedeckten die Wände. Springsteen rockte neben einer gütig dreinblickenden Barbara Bush, Christie Brinkley lächelte gewinnend, und ein verblassendes Poster der Supremes zeigte die drei Mädchen mit Korkenzieherlocken und knalligem Lippenstift.
Sie alle waren Annies Freunde und Kameraden, angefangen bei Prinzessin Diana bis hin zu einem unbekannten Fotomodell, welches für Haarshampoo warb.
»Sie können sich ruhig setzen«, forderte Annie sie auf. »Wo immer Sie wollen. Ich hab’ Kirschsaft und Oreos da.«
»Lieb von dir.« Clare ließ sich auf einem Kissen mit ausgeblichenem Blumenmuster nieder, während Cam sich unter ein Mickymaus-Mobile duckte. »Aber du brauchst dir keine Umstände zu machen.«
»Ich mag Besuch.« Annie arrangierte die Plätzchen auf einem angeschlagenen Teller, dann goß sie den süßen Kirschsaft in drei Plastikbecher. »Mrs. Negley hat mir ein paar Bücher geschenkt. Ich schau’ mir so gerne die Bilder an.« Mit dem Geschick langjähriger Gewohnheit balancierte
sie die Drinks um die Kartons herum. »Sie können auch noch was nachhaben.«
»Das reicht erst mal«, meinte Cam. »Setz dich doch zu uns.«
»Erst muß ich die Plätzchen holen. Man muß seinen Gästen immer einen kleinen Imbiß anbieten. Hat mir meine Mama gesagt.« Nachdem sie den Teller auf einem Karton abgestellt hatte, nahm Annie Platz. »Fanden Sie die Parade gestern schön?«
»Ja.« Clare lächelte sie an. »Sie hat mir sehr gefallen.«
»Die Musik war gut, nicht? Gut und laut. Ich wünschte, jeden Tag wär eine Parade. Danach war ich bei Reverend Barkley, da gab’s Hamburger und Eis.«
»Erinnerst du dich, daß du Clare bei der Parade gesehen hast, Annie?«
»Sicher. Ich hab’ ihre Freunde getroffen, eine schwarze Frau und einen weißen Mann. Stimmt das?«
»Das stimmt. Du hast uns deine Armbänder gezeigt. Cam würde sie auch gerne sehen.«
Bereitwillig streckte Annie einen Arm aus. »Ich mag hübsche Sachen.«
»Die sind wirklich sehr hübsch.« Cam schob Plastik und vergoldetes Blech beiseite, um das silberne Armband in Augenschein zu nehmen. »Wo hast du denn dies hier her?«
»Gefunden.«
»Und wann hast du es gefunden?«
»Ach, irgendwann.« Lächelnd drehte Annie ihr Handgelenk hin und her, so daß die Armbänder klirrten. »Irgendwann vor gestern.«
Cam zügelte seine Ungeduld. »An dem Tag, an dem ich dich mit dem Auto nach Hause gefahren habe, hattest du es da schon? Erinnerst du dich noch? Das war der Tag, an dem wir Billy Joel im Radio gehört haben.«
Annies Augen umwölkten sich kurz, dann hellten sie sich wieder auf. »Rock’n’Roll. Ich mag den Song. Ich kenne ihn auswendig.«
»Hattest du das Armband an dem Tag schon?«
»Ja, ich glaube schon.« Liebevoll strich sie mit dem Finger
über die Gravur. »Ich hab’s lange vorher gefunden. Die Rosen haben noch nicht geblüht, aber die Bäume kriegten schon neue Blätter.«
»Okay. Kannst du mir sagen, wo du es gefunden hast?«
»Auf dem Boden.«
»Hier in der Stadt?«
Annie runzelte die Stirn. »Nein.« Sie erinnerte sich zwar genau, aber sie konnte ihm nicht von dem geheimen Platz erzählen. Niemand durfte davon wissen. Unruhig zog sie den Arm weg und griff nach einem Plätzchen. »Einfach auf dem Boden. Ich sehe was und heb’s auf. Ich hebe vieles vom Boden auf. Wollen Sie noch was trinken?«
»Nein, danke.« Clare beugte sich vor und nahm Annies Hand. »Annie, es ist wichtig, daß du dich daran erinnerst, wo du dieses Armband gefunden hast. Da du es so gern hast, weißt du vielleicht noch, wo es gelegen hat. Du hast dich doch bestimmt sehr darüber gefreut.«
Annie wand sich unbehaglich auf ihrem Stuhl und begann leicht zu stottern, wie ein Kind, welches vor der ganzen Klasse ein schlecht vorbereitetes Gedicht aufsagen soll. Der Kirschsaft hatte um ihren Mund herum einen rötlichen Ring hinterlassen. »Ich hab’s irgendwo gefunden. Irgendwo auf dem Boden. Was man findet, darf man behalten. Ich finde viele Sachen. Die darf man ruhig aufheben, weil die Leute sie weggeworfen haben. Das heißt, sie wollen sie nicht mehr.«
»Gut.« Clare wurde klar, daß diese Befragung Annie verunsicherte. »Mir gefallen deine Bilder«, lenkte sie ab.
Annies nervöse Hände hielten sofort still. »Ich hänge sie auf, dann hab’ ich immer Gesellschaft. Aber nur Leute, die lächeln, keine traurigen Gesichter. Ich hab’ ein Buch gemacht, da hab’ ich alle Bilder eingeklebt. Jetzt kann ich nachts da
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