Dunkle Herzen
Aber vermutlich gab es noch jede Menge andere. Sie behauptete immer, sie hätte halb Emmitsboro im Bett gehabt, aber du kennst ja Sarahs Gerede. Nichts als heiße Luft.«
»Gut, dann werden wir der Sache mal nachgehen.«
»Cam, glaubst du, daß ihr etwas zugestoßen ist? Etwas Schlimmes?«
Manchmal war es besser, zu einer Lüge Zuflucht zu nehmen. »Ich denke, daß sie wahrscheinlich aus einem Wutanfall heraus die Stadt verlassen hat. Sarah handelt immer zuerst und denkt dann nach.«
»Möglich.« Bud klammerte sich an diesen Strohhalm. »Sobald sie sich abreagiert hat, wird sie zurückkommen und Clyde beschwatzen, ihr ihren alten Job wiederzugeben.«
Doch keiner von beiden glaubte daran, als sie den Raum verließen.
Joleen Butts saß am Küchentisch und war eifrig damit beschäftigt, Listen zusammenzustellen. Sie hatte sich seit Wochen das erstemal einen Nachmittag freigenommen, aber unterhalb der Woche lief das Geschäft ohnehin eher schleppend, so daß Will sie wohl ein paar Stunden entbehren konnte.
Schließlich kam es nicht jeden Tag vor, daß der Sohn seinen Schulabschluß machte.
Es lag ihr ein wenig auf der Seele, daß Ernie so gar kein Interesse am Besuch eines College hegte, aber sie bemühte sich, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie selbst war schließlich auch nicht auf dem College gewesen und kam auch so gut zurecht. Aber Will, der sich Ernie schon mit Doktorhut vorgestellt hatte, war bitter enttäuscht. Außerdem war er nie darüber hinweggekommen, daß Ernie sich geweigert hatte, nach der Schule in der Pizzeria mitzuhelfen.
Sowohl sie als auch Will hatten mit dieser Weigerung nicht gerechnet. Beide hatten sie sich abgerackert, um den Laden in Schwung zu bringen, damit Ernie ein florierendes Geschäft übernehmen konnte. Und er zog es vor, als Tankwart zu arbeiten.
Nun ja, der Junge war immerhin schon fast achtzehn. In diesem Alter hatte sie selbst ihren Eltern schon unzählige Enttäuschungen bereitet. Sie wünschte nur … Joleen legte
den Stift beiseite. Wenn ihr Sohn doch nur häufiger lächeln würde!
In diesem Moment hörte sie ihn zur Vordertür hereinkommen, und ihr Gesicht hellte sich augenblicklich auf. Es war schon so lange her, seit sie das letztemal in der Küche zusammengesessen und geredet hatten, so wie vor Jahren, wenn er aus der Schule gekommen war, sich zu ihr an den Tisch gesetzt und mit ihr zusammen seine Hausaufgaben gemacht hatte.
»Ernie.« Sie hörte, daß er zögernd auf der Treppe stehenblieb. Der Junge verbrachte entschieden zuviel Zeit allein in seinem Zimmer, dachte sie. »Ernie, ich bin in der Küche. Komm bitte zurück.«
Er kam, die Hände in die Hosentaschen geschoben, durch die Tür. Joleen fand, daß er ein wenig blaß um die Nase aussah, doch dann fiel ihr ein, daß ihm am Montag furchtbar übel gewesen war. Vermutlich lag ihm der Abschluß im Magen, dachte sie und lächelte ihm zu.
»Was machst du denn hier?«
Der Tonfall kam einer Anklage nahe, trotzdem zwang sich Joleen zur Ruhe. »Ich hab’ mir ein paar Stunden freigenommen. Arbeitest du heute nicht?«
»Erst um fünf.«
»Ausgezeichnet, dann haben wir noch etwas Zeit.« Joleen erhob sich und nahm den Deckel von dem dicken Keramikkoch, der als Keksdose diente. »Ich habe Schokoladenplätzchen mitgebracht.«
»Ich hab’ keinen Hunger.«
»Du ißt schon seit ein paar Tagen kaum etwas. Ist dir immer noch schlecht?« Sie streckte die Hand aus, um seine Stirn zu fühlen, doch er fuhr zurück.
»Ich will keine Plätzchen, okay?«
»Klar.« Der Junge mit den dunkel umschatteten Augen und der fahlen Haut, der ihr gegenübersaß, hätte ein Fremder sein können. »Wie war’s in der Schule?«
»Reine Zeitverschwendung, da kommt eh nichts mehr bei raus.«
»Na ja.« Joleen fiel das Lächeln zunehmend schwerer.
»Ich kenne das. Die letzte Woche vor dem Abschluß ist wie die letzte Woche vor einer Begnadigung. Ich hab’ deinen Talar schon gebügelt.«
»Prima. Ich hab’ jetzt noch was vor.«
»Ich wollte eigentlich mal mit dir reden.« Joleen suchte ihre Listen zusammen. »Über die Feier.«
»Was für ’ne Feier?«
»Das weißt du doch, wir haben es ausführlich besprochen. Am Sonntag nach dem Abschluß. Oma und Opa kommen runter, Tante Marcie und Nana und Frank aus Cleveland. Ich weiß wirklich nicht, wo ich sie alle unterbringen soll, aber …«
»Was wollen die denn alle hier?«
»Na, sie kommen natürlich deinetwegen. Ich weiß, daß du für die eigentliche
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