Dunkle Herzen
Schließlich hatte sie ihn in genau diesem Zimmer zum erstenmal gehabt. Nur war es diesmal schlimmer gewesen als sonst, weil die Erinnerungen an jene Nacht, in der sie den zerschmetterten Leib ihres Vaters auf den Steinplatten der Terrasse gefunden hatte, in den Traum mit eingeflossen waren.
Clare preßte die Handballen gegen die Augen und lehnte sich gegen die Wand, bis die Bilder verblaßten. In der Ferne begrüßte ein Hahn lauthals krähend den neuen Morgen. Wie die Träume, so verschwanden auch die Ängste mit dem ersten Sonnenlicht. Als sie sich wieder beruhigt hatte, streifte Clare das Baseballtrikot, welches ihr als Nachthemd diente, ab und stellte sich unter die Dusche.
Während der nächsten Stunde ging sie mit mehr Energie und Leidenschaft an die Arbeit, als sie seit Wochen hatte
aufbringen können. So entstand, geschaffen aus Kupfer und Stahl, das dreidimensionale Abbild ihres Alptraums. Ein künstlerischer Exorzismus.
Clare arbeitete konzentriert und sorgfältig, und während das Material unter ihren Händen langsam Gestalt annahm, konnte sie bereits die Aura machtvoller Kraft spüren, die die Statue ausstrahlte. Dennoch blieben ihre Hände ganz ruhig. Bei der Arbeit mußte sie sich selten zur Geduld und zur Vorsicht mahnen; es war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, den Brenner kurz abzuschalten, wenn das Metall zu heiß wurde. Automatisch achtete sie auf Farbe und Konsistenz der Metalle, selbst wenn sie mit ihren Gedanken weit weg war.
Ihre Augen hinter der dunklen Schutzbrille blickten starr, wie hypnotisiert. Funken sprühten, als sich die Flamme zischend in das Metall fraß.
Gegen Mittag hatte sie sechs Stunden ununterbrochen gearbeitet und war körperlich wie geistig erschöpft. Nachdem sie die Flaschen zugedreht hatte, legte sie den Schweißbrenner beiseite. Schweiß rann ihr langsam den Rücken hinunter, doch sie achtete gar nicht darauf, sondern starrte, während sie die Handschuhe auszog und die Brille sowie die Schutzkappe abnahm, wie gebannt auf das, was sie erschaffen hatte.
Vorsichtig umkreiste sie die Statue und musterte sie kritisch von allen Seiten, aus jedem Blickwinkel. Sie maß drei Fuß und schimmerte in einem kalten, tödlichen Schwarz; eine Figur, die ihren tiefsten, verborgensten Ängsten entsprungen war, mit unverkennbar menschlichen Umrissen und einem alles andere als menschlichen Kopf. Der Stirn entsprossen Hörner, das Maul war höhnisch verzogen. Der Menschenkörper schien demütig gebeugt zu verharren, wohingegen der Kopf in wildem Triumph zurückgeworfen wurde.
Als Clare ihr Werk betrachtete, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Die Statue jagte ihr Angst ein, und doch war sie stolz auf ihre Arbeit.
Die Skulptur war gut, dachte sie, die Hand auf den
Mund gepreßt. Wirklich gut. Doch aus Gründen, die sie selbst nicht verstand, ließ sie sich auf den nackten Betonboden sinken und begann zu weinen.
Alice Crampton hatte ihr gesamtes Leben in Emmitsboro verbracht. Zweimal nur hatte sie die Grenzen des Staates Maryland überschritten: einmal war sie mit Marshall Wikkers, kurz nachdem sich dieser bei der Navy verpflichtet hatte, für ein wildes Wochenende nach Virginia Beach gefahren, und einmal hatte sie ihre Cousine Sheila, die mit einem Augenarzt verheiratet war, in New Jersey besucht. Abgesehen davon hatte sie fast jeden Tag ihres Lebens in der Stadt, in der sie geboren war, zugebracht.
Manchmal empfand sie deswegen einen Anflug von Bedauern, doch meistens dachte sie gar nicht darüber nach. Sie träumte davon, genug Geld zusammenzusparen, um in irgendeine anonyme Großstadt zu ziehen, wo die Gäste für sie Fremde waren und reichlich Trinkgeld gaben. Bis es soweit war, servierte sie den Leuten, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte und die nur selten ein Trinkgeld auf dem Tisch liegenließen, Kaffee und Schinkensandwiches.
Alice war eine vollbusige, breithüftige Frau, die in ihrer rosaweißen Uniform oft die Aufmerksamkeit ihrer männlichen Gäste auf sich zog. Zwar bedachten sie manche von ihnen – wie zum Beispiel Less Gladhill – oft mit lüsternen Blicken, doch keiner wagte es, sie direkt zu belästigen. Alice pflegte jeden Sonntag in die Kirche zu gehen, um den Schutzwall ihrer Tugend, den Marshall Wickers einst eingerissen hatte, wieder aufzubauen.
Niemand mußte sie anweisen, die Theke zu wischen oder über den Scherz eines Gastes zu lachen. Sie war eine gute, umsichtige Kellnerin, blieb stets freundlich und gelassen und
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