Dunkle Herzen
ihn die Gefühle der beiden Menschen, die ihm das Leben geschenkt hatten, herzlich wenig. Er empfand kaum mehr als Mitleid für den Mann und die Frau, die Rocco’s Pizzeria betrieben und ständig von Knoblauch- und Schweißdunst umgeben waren. Seine Weigerung, im Familienbetrieb mitzuarbeiten, hatte Anlaß für eine Reihe von Auseinandersetzungen gegeben, und dennoch hatte er einen Job als Tankwart an der Amoco-Tankstelle angenommen. Der Junge strebt nach Unabhängigkeit, hatte seine Mutter dem enttäuschten und verwirrten Vater erklärt und ihn so zu beschwichtigen versucht. Schließlich hatten sie ihm seinen Willen gelassen.
Manchmal stellte Ernie sich vor, wie es wäre, die Eltern zu töten, fühlte, wie ihr Blut von seinen Fingern tropfte, und spürte förmlich, wie ihre Lebensenergie im Moment des Todes aus ihnen entwich und in ihn hineinfuhr. Derartige Mordfantasien ängstigten und faszinierten ihn gleichermaßen.
Er war ein sehniger, drahtiger Bursche mit dunklem Haar und einem mürrischen Gesicht, das dennoch auf viele Schülerinnen der High School eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübte. Zwar genoß er die sexuellen Begegnungen, die zumeist auf dem Rücksitz seines alten Toyota stattfanden, doch insgeheim hielt er seine Altersgenossinnen größtenteils für dumm, zimperlich und langweilig. In den fünf Jahren, die er nun schon in Emmitsboro lebte, hatte er noch keine enge Freundschaft, weder mit einem Jungen noch mit einem Mädchen, geschlossen. Mit wem konnte er schon über die soziopathische Persönlichkeitsstruktur, die Bedeutung des Necronomicon oder den tieferen Sinn uralter Bräuche diskutieren?
Ernie betrachtete sich selbst als Außenseiter, für ihn eine durchaus nicht negative Stellung. Er erzielte gute Noten, da ihm das Lernen leichtfiel und er sich einiges auf seine Intelligenz einbildete. Doch Aktivitäten, die mit gesellschaftlichen Kontakten verbunden waren, wie etwa Sport- oder Tanzveranstaltungen, lehnte er ab, um zu vermeiden, daß engere Beziehungen zwischen ihm und den anderen Jugendlichen entstanden.
Lieber beschäftigte er sich mit den schwarzen Kerzen, den Pentagrammen und dem Ziegenblut, das er in seiner Schreibtischschublade unter Verschluß hielt. Während seine Eltern nichtsahnend in ihrem weichen Bett schliefen, betete er Gottheiten an, von deren Existenz sie nichts wußten.
Außerdem besaß er ein sehr leistungsfähiges Teleskop, durch das er von seinem Zimmer in luftiger Höhe aus das Geschehen in der Stadt beobachten konnte. Und er sah so manches.
Sein Elternhaus lag schräg gegenüber vom Haus der Kimballs. Ernie hatte Clare ankommen sehen und sie seither
regelmäßig beobachtet. Er kannte die alten Geschichten. Seit Clare wieder da war, kochte die Stadt von Gerüchten geradezu über. Er hatte darauf gelauert, daß sie nach oben gehen, daß das Licht im Dachgeschoß des Kimball-Hauses angehen würde, doch bis heute war nichts dergleichen passiert.
Ernies Enttäuschung hielt sich in Grenzen. Schließlich konnte er immer noch das Glas auf ihr Schlafzimmerfenster richten, um sie beim An- und Ausziehen zu beobachten. Einmal hatte er bereits gesehen, wie sie ein Hemd über ihren schlanken, nackten Körper streifte und ihre schmalen Hüften in enge Jeans zwängte. Ihre Haut war sehr blaß, nur das Dreieck zwischen ihren Schenkeln leuchtete so flammendrot wie ihr Haar. Heimlich träumte er davon, sich durch die Hintertür ins Haus zu schleichen und leise die Treppe emporzusteigen. Er würde ihr den Mund mit seiner bloßen Hand verschließen, ehe sie schreien konnte, sie dann fesseln und, während sie sich hilflos wand und aufbäumte, Dinge mit ihr anstellen, die jenseits ihrer Vorstellungskraft lagen.
Wenn er mit ihr fertig war, würde sie ihn anflehen, noch einmal zurückzukommen.
Es mußte ein großartiges Gefühl sein, dachte er, eine Frau in einem Haus zu vergewaltigen, in dem jemand eines gewaltsamen Todes gestorben war.
Ein Laster ratterte die Straße entlang, und Ernie erkannte den Ford von Bob Meese, dem Antiquitätenhändler. Fauchend und Kohlenmonoxydwolken ausstoßend quälte er sich die Auffahrt zum Kimball-Haus hoch. Clare sprang aus dem Wagen, und obwohl Ernie kein Wort verstehen konnte, sah er, daß sie lachte und aufgeregt auf den korpulenten Meese, der seine Körperfülle gerade mühsam durch die Tür auf der Fahrerseite zwängte, einredete.
»Ich bin dir wirklich sehr dankbar, Bob.«
»Null Problemo.« Das war das mindeste, was er um der alten
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