Dunkle Rosen: Roman (German Edition)
gehasst, sich fotografieren zu lassen. Er war schüchtern. Komisch, sich seinen Großvater als schüchternen Menschen vorzustellen, der seinen Hund geliebt hat.«
»Deine Großmutter war kontaktfreudiger?«, gab Mitch ihr ein Stichwort.
»Oh, viel mehr. Sie liebte die Geselligkeit, fast ebenso sehr wie die Gartenarbeit. Besonders gerne lud sie zu feinen Mittagessen oder Teegesellschaften ein. Dafür warf sie sich dann in Schale – mit Hut, Handschuhen und Kleidern aus leichten Stoffen.«
»Ich habe Fotos gesehen. Sie war elegant.«
»Trotzdem konnte sie auch in alte Hosen schlüpfen und stundenlang im Dreck wühlen.«
»Von der Sorte kennen wir doch noch jemanden.« Mitch strich ihr leicht übers Haar. »Dein Großvater wurde ein paar Jahre nach seiner jüngsten Schwester geboren.«
»Hm. Ich glaube, es gab weitere Schwangerschaften. Meine Großmutter hatte selbst zwei Fehlgeburten, und ich erinnere mich dunkel daran, dass sie einmal erwähnt hat, ihrer Schwiegermutter wäre es ebenso ergangen. Vielleicht kam es auch zu einer Totgeburt.«
»Und dann kam ein Sohn, geboren in der Zeit, in der nach unseren Vermutungen auch Amelia gelebt hat – und gestorben ist. Amelia, die hier im Haus herumspukt, aber von der wir nicht beweisen können, ob sie auch darin gelebt hat. Sicherlich nicht als Angehörige. Die den Kindern Lieder vorsingt und allem Anschein nach wahnsinnig kinderlieb ist – Männern dagegen misstraut, ja, sie sogar verachtet.«
Roz legte wieder den Kopf schräg. Die Dämmerung wich nun sehr rasch der Dunkelheit, und damit wurde es empfindlich kühl. »Ja, und?«
»Was, wenn das Kind, das 1892 geboren wurde, ihres war? Ihr Sohn, Roz. Amelias Sohn, nicht Beatrice Harpers.«
»Das ist eine ziemlich weit hergeholte Theorie, Mitchell.«
»Ja? Vielleicht. Auf jeden Fall ist es nur eine Theorie, und sie gründet sich zum Teil auf etwas gewagten Spekulationen. Aber es wäre nicht das erste Mal.«
»Davon hätte ich etwas gehört. Irgendjemand hätte bestimmt darüber gesprochen; es wäre getuschelt worden.«
»Wie? Warum? Wenn die ursprünglich Beteiligten sehr darauf geachtet hätten, nichts zu verraten. Der wohlhabende, einflussreiche Mann, der sich nach einem Sohn sehnt – und der Geld bezahlt, um einen zu bekommen. Himmel, so etwas gibt es heute auch noch.«
»Aber …« Mit einem Ruck erhob sich Roz. »Wie konnten sie so einen Betrug geheim halten? Du sprichst ja nicht von einer legalen Adoption.«
»Nein, ganz richtig. Spiel den Gedanken noch ein bisschen weiter mit mir durch. Was, wenn Reginald eine junge Frau eingestellt hat, wahrscheinlich aus gutem Hause und einigermaßen intelligent, die in einer gewissen Notlage steckte. Er bezahlt ihre Rechnungen, gibt ihr einen sicheren Hafen, nimmt ihr aber ihr Kind, wenn es ein Junge ist.«
»Und wenn es ein Mädchen ist, hat er seine Zeit und sein Geld vergeudet?«
»Ein Glücksspiel. Eine andere Möglichkeit wäre, dass er sie selbst geschwängert hat.«
»Und seine Frau hat den Bastard mir nichts, dir nichts als ihr eigenes Kind, als den Erben angenommen?«
»Reginald bestimmte allein über die Finanzen, oder?«
Roz stand ganz still und rieb sich über die Arme. »Das ist eine sehr kaltherzige Theorie.«
»Stimmt. Vielleicht war dein Urgroßvater auch in Amelia verliebt, wollte sich von seiner Frau scheiden lassen und sie heiraten. Möglicherweise ist sie im Kindbett gestorben. Es könnte jedoch ebenso gut ein knallhartes Geschäft gewesen sein – oder etwas anderes. Aber wenn dieses Kind, wenn Reginald Harper junior Amelias Sohn war, würde das einiges erklären.«
»Zum Beispiel?«
»Weder dich noch irgendjemanden deiner Blutsverwandten hat sie jemals verletzt. Könnte das daran liegen, dass du mit ihr blutsverwandt bist? Dass du zu ihren Nachkommen gehörst? Ihre Urenkelin bist?«
Roz entfernte sich von dem kleinen Grab. »Warum ist sie dann im Haus, auf meinem Anwesen? Hat sie laut deiner Theorie etwa das Baby hier zur Welt gebracht? In Harper House?«
»Möglicherweise. Oder sie kam zu Besuch hierher, hat einige Zeit hier verbracht. Vielleicht als Kindermädchen, auch das wäre nicht das erste Mal. Könnte sein, dass sie hier gestorben ist, auf welche Weise auch immer.«
»Auf welche Weise auch …«
Das Grab war nicht klein, und es hatte keinen Grabstein. Es klaffte weit offen, dunkel und tief. Sie stand darüber, stand über dem breiten Schlund in der Erde. Sie schaute auf den Tod hinab. Auf die Tote in dem
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