Dunkle Schwinge Bd. 2 - Der dunkle Pfad
aber er wollte einfach ihre Reaktion sehen. Jackie verzog keine Miene; sie wollte nichts erkennen lassen, nicht einmal Angst. Ihre Gedanken überschlugen sich jedoch wie wild.
Das Hohe Nest wusste von den Vuhl, mindestens seit einem Jahr! Und niemand hat etwas unternommen, überlegte sie.
»Urteilen Sie nicht zu hart über Ihre Admiräle«, riet er ihr. »Überlegen Sie, was Sie mit einer solchen Information angestellt hätten. Nicht jetzt, sondern vor Ihren jüngsten Erfahrungen. Jetzt werden Sie es wohl glauben, aber hätten Sie es damals auch geglaubt?«
Sie sah auf ihre Hände, die sie gefaltet in den Schoß gelegt hatte und die neben dem kraftvollen Rot ihres Gewands blass wirkten.
Bin ich so anders?, fragte sie sich. Habe ich mich so verändert?
Der mächtige Fluss entspringt aus einer verborgenen Quelle, sagte die Stimme in ihrem Kopf.
Sie musste eine erschrockene Miene gemacht haben, denn auf einmal beugte Boyd sich vor und berührte ihren Arm. Sie zuckte vor ihm zurück und drehte sich so, dass sie zur am weitesten entfernten Wand schaute. Die war geschmückt mit einem vielfarbigen Teppich, der eine Szene aus einer Zor-Legende zeigte: Ein Krieger mit einem leuchtenden chya in der Hand bezwang eine steile Straße, die zu einem fernen, von Blitzen umgebenen Turm führte.
»Commodore?«
»Entschuldigen Sie, aber Sie hatten mich erschreckt. Fahren Sie bitte fort.«
»Ohne Unterstützung durch die Admiralität«, sagte Boyd prompt, »schickte der Hohe Lord den Gyaryu ’har nach Cicero. Das geschah aus zwei Gründen. Zum einen würde die Beurteilung der Situation durch einen ehemaligen Militäroffizier für den Rat der Elf besonders wertvoll sein, zum anderen ging man davon aus, dass er in Sicherheit war, solange er von seinem gyaryu beschützt wurde. Ein Traum hatte besagt, dass die Reichskralle vor den esGa’uYal schützen würde. Vor einigen Wochen ließ der Hohe Lord dem Imperator eine Nachricht zukommen, in der er ihn wissen ließ, dass die esGa’uYal begonnen hatten sich zu regen. Er schickte die Nachricht ab, unmittelbar nachdem Admiral Tolliver den Sprung von Cicero aus angetreten hatte. Der Rest dürfte Ihnen bekannt sein.«
Sie atmete ruhig durch. »Der … Gyaryu ’har spielte auf seine Mission an. Mir war nur nicht klar, dass er diese Inspektion wollte, nicht aber Admiral Tolliver.«
»Das dürfte der Admiral auch so beabsichtigt haben.«
»Ich möchte Sie etwas fragen, Sir. Warum erzählen Sie mir das jetzt, unmittelbar vor dem Ritual?«
»Es kann Ihnen helfen, sich über bestimmte Dinge klar zu werden. Sie müssen wissen, dass für das Volk jede Person und jede Sache ihre Rolle und ihren Platz hat, wie esLi es vorsieht. Die mystische Art, die von den ›rational‹ denkenden Menschen als chaotisch angesehen wird, beruht in Wahrheit auf dem Glauben an diese harmonische Rollenverteilung und an die Gewissheit, dass einem seine eigene Rolle irgendwie deutlich gemacht wird. Das ist der Grund für den Ehrenkodex – für die Träume des Hohen Lords – und für das Dsen’yen’ch’a.«
»Meine Rolle ist die eines Offiziers der Imperialen Navy, Mr Boyd, nichts anderes.«
»Das habe ich verstanden, Commodore. Jedoch unterschätzen Sie sich.«
»Was soll das heißen?«
Im größeren Raum ertönte ein Gong, Boyd stand auf. »Wir müssen gehen. Der Hohe Kämmerer ist bereit.«
»Was das heißen soll, will ich wissen.« Sie packte ihn am Arm und hätte ihn fast zurück auf den Stuhl gezogen.
»Ich … ich habe vermutlich etwas gesagt, was mir zu sagen nicht zusteht. Bitte, Commodore, wir müssen uns zum Hohen Kämmerer begeben.« Er löste seinen Arm aus ihrem Griff und ging hinaus. Da sie nicht wusste, was sie sonst hätte machen können, stand sie ebenfalls auf und folgte ihm.
Ch’k’te kauerte in einem Torus, der nahe der hinteren Wand in diesem Raum hing. Seine Augen waren geschlossen, öffneten sich aber, als Jackie und der Kämmerer sich ihm näherten. Er stieg vom Tonis herab und flatterte sanft zu Boden, dann griff er leicht nach Jackies Unterarmen.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er, während der Kämmerer respektvoll Abstand wahrte.
»Ich halte, was ich verspreche. Ich werde mein Bestes geben.«
»Das wird mehr als genug sein«, erwiderte er, drückte behutsam ihre Arme und ließ sie dann los. »Hat der Kämmerer etwas gesagt, das Sie bedrückt?«
»Er wollte mir zu verstehen geben, dass ich nicht hier sein sollte.«
Ch’k’te sah kurz den Kämmerer und dann
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